Solo exhibition gallery Pudelko, Bonn,2004
Dr. Troels Andersen (Direktor Sikeborg Kunstmuseum,Danemark)
Die Nachfolge des Bildes
Wenn man das Werk Igor Ganikowskijs in Beziehung zu Strömungen der zeitgenössischen Kunst setzen will, kommt man unweigerlich zu der Frage: wie steht das Werk in Relation zu der modernistischen Tradition russischer Kunst seiner Zeit?
Für ihn selbst sind diese Beziehungen zwiespältig: Er erkennt eine gewisse Kontinuität zwischen seinem frühen Werk und den letzten, mehr abstrakten Formen, die dominieren, seit er Rußland verlassen hat. Gleichzeitig betrachtet er sein aktuelles Werk als universeller, befreit von einem engen russischen Kontext.
Eine kurze Betrachtung des derzeitigen Hintergrundes ist aufschlußreich. Der Bruch, der durch die Oktoberrevolution verursacht wurde und die dann folgenden Entwicklungen der russischen Kunst stellen eine nie geheilte Wunde dar.
In der Literatur, ganz besonders in der Poesie, sowie in der Musik, waren einzelne herausragende Persönlichkeiten durch ihre Arbeit und ihre schlichte Präsenz in der Lage, das fortzuführen, was in der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht worden war. Ganz anders die bildende Kunst. Die Generation, die geformt und erzogen wurde durch die Pioniere, war künstlerisch isoliert und an den Rand gedrängt, wenn nicht von einem noch schlimmeren Schicksal ereilt.
Als eine neue Generation während der wechselnden „Frost- und Tauperioden“ der fünfziger und sechziger Jahre nach einer persönlichen künstlerischen Basis zu suchen begann, war ihre Aufmerksamkeit weniger ihren russischen Vorgängern gewidmet, als vielmehr den aktuellen Tendenzen der westlichen und amerikanischen Kunst. Es gab Ausnahmen wie Zverev, Jakovlev, Voroshilow, die ihre eigenen expressionistischen Mittel etablierten oder sogar die aktuellen Grenzen überschritten (wie Michail Schwartsman oder Igor Vulokh) bis zu jenen Quellen, die einst die Pioniere russischer Kunst inspiriert hatten.
Die nicht offizielle Szene war hauptsächlich von russischer Pop Art dominiert, gefolgt von Minimalismus, Concept-Art und Happenings, auf der Basis überlieferter Informationen und Reproduktionen.
Für viele Jahre war an eine Auseinandersetzung mit Künstlern aus dem Westen nicht zu denken. In einigen Fällen wurde der Traum eines Ausbruchs, der Traum einer Karriere außerhalb Rußlands, zu einer Obsession. Die wenigen, denen der Grenzwechsel gelang, erreichten nicht das gelobte Land.
Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt erst sind die Möglichkeiten zum Austausch gegeben. Es ist ein offener Kunstmarkt mit privaten Galerien und entsprechenden Interessenten entstanden.
Im Vergleich zu vielen der zuvor geschilderten Situationen war die Rolle Igor Ganikowskijs die eines Außenseiters. Zunächst hat er nicht das System künstlerischer Ausbildung durchlaufen, das in der Vergangenheit so viele junge Künstler erstickt hatte. Wenn überhaupt, dann ist die frühe „Kathedralen-Serie“ mit expressionistischen Strömungen in Verbindung zu setzen, indem sie spirituelle Momente symbolisiert, sich aber in ihrer verallgemeinernden Metaphorik unterscheidet.
Sein jüngeres Werk, welches nach seinem Wechsel nach Deutschland entstand, kann im Zusammenhang mit Versuchen westlicher Kunst gesehen werden, einige Traditionen rein abstrakter Kunst wiederzubeleben oder am Leben zu erhalten (wie es von Zeitschriften wie „The Structuralist“ oder „Leonardo“ verfochten wurde).
Jedoch scheint er, ganz anders als viele seiner Zeitgenossen, einen persönlichen Dialog mit dem Erbe der russischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts zu etablieren. Intuitiv, nicht von einem gesuchten oder erzwungenen Ansatz ausgehend.
Das erweiterte Bewußtsein für Form, welches ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen der Pioniere der russischen Abstraktion war, führte unter anderem auch zur Suche nach einem Kanon für Malerei. David Burljuk und Vladimior Markov gehörten zu den ersten, die einige Grundsätze schriftlich faßten. Besonders sind zwei ihrer Kategorien von Interesse in Zusammenhang mit dem Werk Igor Ganikowskijs, nämlich die Bemerkungen zu „Sdvig“ (Veränderung) und „Faktura“ (Textur), als konstituierende Elemente eines Kunstwerks. Wie Tatlin in seinen „Contre-Reliefs“ operiert Ganikowskij in seinen „Büchern“ und in seinen rein abstrakten Kompositionen mit dem Raum, arbeitet mit dem wechselnden Standort des Betrachters im Hinblick auf das Kunstwerk. Das ist jedoch nicht ganz das gleiche wie „Sdvig“! In Tatlins Reliefs, die heute fast ausschließlich aus Fotografien oder Rekonstruktionen bekannt sind, bleiben die überwiegenden Kompositionsmerkmale unverändert, auch bei Betrachtung von unterschiedlichen Standpunkten aus. Ganz anders steht es mit Ganikowskijs Reliefs: sie präsentieren mindestens zwei, manchmal sogar drei unterschiedliche Perspektiven, wenn man sie frontal oder von der Seite betrachtet.
„Sdvig“ taucht in reiner Form in seinen Untersuchungen zum Quadrat auf, wobei sich unvermeidbar die Erinnerung an Malewitschs „Weißes Quadrat auf weißem Grund“ aufdrängt. Beinahe wie ein Kommentar zu diesem Werk legt Ganikowskij zwei Leinwand-Quadrate identischer Größe jedoch leicht unterschiedlicher Farbe und Tonwerte aufeinander und dreht eines um etwa 45 Grad. Durch diesen einfachen Eingriff ist die Empfindung von Materie quasi zerstört. Die sich unten befindende Leinwand wirkt entmaterialisiert. Der Begriff „Sdvig“ wird zu einer metaphysischen Kategorie, die Einblick in räumliche Beziehungen gewährt, die von traditionellen Vorstellungen der Dreidimensionalität abweichen. Ähnlich sprach Malewitsch einmal über einige seiner suprematistischen Bilder als „für den Künstler unbekannt, in eine vierte Dimension vorgedrungen“ oder eben „mystische Ereignisse“ malend.
Der Begriff „Faktura“ beschreibt den Zustand der Oberfläche, die Behandlung der Farbe durch Worte wie „perlengleich“, „granuliert“, „durchscheinend“ usw. Diese Begriffe beschreiben nicht nur handwerkliche Attribute, sondern Qualitäten, die für das Gemälde notwendig sind im Sinne eines künstlerischen Ausdrucks.
Ganikowskij spricht diese Sprache, indem er sorgfältig Farbschichten auf seine Reliefs aufbringt oder noch nachdrücklicher, indem er Papier als Medium benutzt.
Auf vielerlei Wegen scheint Ganikowskijs jüngstes Werk den Schwerpunkt auf den semantischen Aspekt des Bildes zu lenken und an die Errungenschaften der sogenannten formalistischen Tradition der russischen Kunst anzuknüpfen. Falls das so ist, so wiedereröffnet er ein weites Feld. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß diese Tendenz nicht nur Einfluß auf die bildende Kunst hatte, sondern auf Musik, Literatur, Linguistik und Philosophie. Störenderweise stellt Ganikowskij selber jedoch in etlichen Werken Zeichen und Symbole in seine anscheinend klassich-abstrakten Kompositionen. Auch wenn sie nur zweitrangig, kaum sichtbar auftreten, so schaffen sie doch ein Gefühl der Zweideutigkeit und erinnern uns daran, daß man nicht alle Gedächtnisprozesse durch reine Operationen mit Formen ausdrücken kann.