Solo exhibition Museum Gröbzig, 2014
Dr. Marc Scheps (Direktor Tel-Aviv Kunstmuseum und Ludwig Museum Köln)
Die Symbole des Licht im Werk von Igor Ganikowskij.
Die Kunst von Igor Ganikowskij ist mit verborgenen Symbolen beladen und muss entschlüsselt werden, wenn man ihre tiefere Bedeutung erkennen will. Ganikowskij hat eine Sprache visueller Symbole entwickelt und seine scheinbar streng reduzierten Werke offenbaren uns ihre Inhalte erst dann, wenn wir gelernt haben, ihre Rätsel zu lösen. Es lohnt sich deshalb, eine Reise in diese „terra artis incognita“ zu unternehmen, um zu versuchen, in einer Reihe von Stationen eine erste Topographie des Werks zu skizzieren.
I. Farbe
Der Titel der letzten Ausstellung „Zwischen Schwarz und Weiß“, im Museum Felix-Nussbaum Haus, gibt uns schon einen ersten Hinweis auf die große Bedeutung der Farbe im Werk des Künstlers, die in ein duales System eingebettet ist: In der Farbe Weiß sind alle Farben des Spektrums vorhanden, in der Farbe Schwarz sind alle abgestoßen. Alle anderen Farben liegen zwischen diesen beiden Extremen und wir finden verschiedene Kombinationen wie Schwarz und Rot oder Schwarz, Rot und Weiß oder auch Schwarz und Gelb. Man denkt an die Strenge des Mondrianschen Farbensystems, das auf hohen geistigen Ansprüchen beruhte. Für Ganikowskij stehen die Farben und insbesondere Schwarz und Weiß als duale Symbole für Tag und Nacht, Leben und Tod, Himmel und Erde, Licht und Finsternis. Zwischen Schwarz und Weiß steht Rot für das Leben. In der „Großen Komposition“ (2002) können wir zum Beispiel den symbolischen Aufbau der Farben beobachten, in dem der rote Faden des Lebens die aufsteigende weiße Struktur von der herabsteigenden schwarzen trennt. Die symbolische Bedeutung der Farben ist eng mit jener der geometrischen Formen verbunden und der verschlüsselte Sinn des Werks wird erst klar, wenn wir beide gemeinsam betrachten.
II. Geometrie
Der Kreis, das Quadrat und das Dreieck sind für Ganikowskij nicht bloß geometrische Figuren, sondern vor allem symbolische Zeichen einer unsichtbaren Welt. Der Künstler entwirft hier seine eigene geistige Geometrie, die ähnlich der Kabbala den Versuch unternimmt, verborgenen Welten eine visuelle Gestalt zu verleihen. Die geometrischen Figuren erscheinen als reduzierte Zeichen, die den Kosmos symbolisch vertreten, sie sind sozusagen Modelle, die uns helfen sollen, das Chaos der weltlichen Realität zu bewältigen. Die harmonische Ordnung der geometrischen Formen und Farben steht hier als Vermittler zwischen dem menschlichen Geist und jenen Kräften, die Unendlichkeit der Welt vertreten.
III. Raum und Zeit
Die Problematik von Raum und Zeit war von zentraler Bedeutung für die Kunst des 20. Jahrhunderts. Ganikowskijs philosophische und künstlerische Auseinandersetzung mit dem von Michail Bachtin eingeführten und von Ganikowskij benutzten Begriff „Chronotop“ (von Chronos-Zeit und Topos-Raum) ist eine Fortsetzung dieses Hauptthemas der Modernen Kunst. Seine raum-zeitlichen Untersuchungen im Rahmen der Malerei führen ihn schließlich in den Raum der Realität, in dem sich seine geometrische Symbolik ständig verändern und verwandeln kann. Was ihm in der statischen und flachen Dimension der Malerei fehlte, war diese innere Dynamik des Raums, die ihren Ausdruck vor allem im zeitlichen Ablauf findet. Der russische Künstler Alexander Archipenko hat schon um das Jahr 1913 eine dreidimensionale Malerei erprobt und der Amerikaner Frank Stella hat in den letzten Jahrzehnten viele Werke geschaffen, die eigentlich Malerei im Raum sind. Das Hauptproblem dieser Künstler war die Befreiung von der Raumillusion der Malerei. Andere Künstler wie Jesus Raffael Soto und Jaacov Agam haben versucht, die Malerei mit visuellen Reizen und spielerischen Mechanismen in den Raum zu projizieren, um damit den Zuschauer in das Werk einzubeziehen. Der Schwerpunkt ihres Werks lag auf dem zeitlichen Element.
Ganikowskij gestaltet verschiedene Körper im Raum, deren Bedeutungen sich ändern, wenn wir uns im Raum bewegen. Es entsteht eine raum-zeitliche Dynamik, in der das Sein der Dinge sich ständig verändert. Wir erfahren die Unendlichkeit, die Unvorstellbarkeit von Raum und Zeit und verstehen diese als abstrakte Symbole des Geistes. Unsere rhythmische Bewegung im Raum um die aufgestellten Werke von Ganikowskij offenbart neue und zuvor verborgene Inhalte. Der Chronotop öffnet uns den Weg für eine meditative Wanderung, die uns durch die Unendlichkeit der Welt und in die Tiefe und Verborgenheit unserer Seele führt.
IV. Licht
Der Raum und seine zeitliche Dimension brauchen das Licht, um wahrgenommen zu werden. Der künstlerische Weg führt Ganikowskij von der Fläche der Malerei in den Raum, von der Farbe Weiß zur raum-zeitlichen Dimension des Lichts. Bilder wie „Geburt des Lichts“ und „Verdichtung von Licht“ verdeutlichen, wie die Farbe Weiß als Licht und als solches nur durch die Farbe Schwarz als Symbol der Finsternis zu erkennen ist. Die Farbe Weiß als Symbol des Lichts und das Licht als Symbol des Geistes. Das Licht ist jedoch eine sich verändernde Erscheinung und der Künstler
untersucht spezifische Eigenschaften wie Reflektion oder Intensität wie z.B. in den „Filter-Bildern“, die den langsamen Übergang von Licht zu Finsternis zeigen.
V. Tor
Zwischen einer geistigen Geometrie und einer utopischen Architektur erscheint das Tor als symbolische Öffnung zu anderen Welten, als Übergang in das Transzendentale. Um das Tor zu öffnen, braucht man einen Schlüssel, den wiederum jeder von uns für sich selbst finden muss. Der Künstler steht immer vor einem verschlossenen Tor und jedes Werk ist ein Versuch, den richtigen Schlüssel zu finden, der ihm den Weg zu einer neuen Welt öffnen kann. Die Werkgruppe der „Tor“-Konstruktionen besteht aus geschlossenen Körpern ohne erkennbare Tore, die wie Festungen aussehen. Die Farbstrukturen dieser Konstruktionen sind die Schlüssel, die uns zu einem möglichen Eingang führen können. Andere verwandte Strukturen tragen Titel wie „Haus“, „Fabrik“ und „Lichtsäle“. Auch hier besteht das Ziel darin, durch die Wahrnehmung eines geschlossenen Körpers eine Öffnung zu finden, die uns zu einer inneren Realität führen kann.
VI. Buch
Geschlossen hinter seinem festen Deckel, geöffnet mit seinen dünnen Seiten. Das Äußere verbirgt ein Geheimnis, das Innere ist mit den Zeichen der Aufklärung versehen. Das Umblättern der Seiten ist ein raum-zeitlicher Ablauf. Das Öffnen einer Seite bedeutet das Schließen einer anderen. Perfekter Chronotop. Das Buch als Ort der Zeichen, als Versuch der Entzifferung. Das Buch als komprimierter und konzentrierter Geist. Das Buch als Symbol für die Enthüllung der Rätsel dieser Welt. Das Buch als Ort des Glaubens. Das Buch als Schlüssel für das Tor.
VII. Tallit
Das traditionelle Tuch, mit dem sich der betende Jude bedeckt. Das genaue mass des Tallit, die Struktur seiner der Streifen und der Farben haben eine religiös-symbolische Bedeutung. Sie verbinden den Einzelnen mit dem göttlichen Geist. Der Tallit ist sozusagen ein persönliches Zelt des Glaubens und er bedeckt den Körper nach vorgeschriebenen Regeln. Die „Tallit“-Werke von Ganikowskij bestehen aus bemalten und zusammengefalteten Blättern, die vielfach unregelmäßige hexagonale Formen bilden. Vielleicht ein Verweis auf die sechs Spitzen des Davidsterns. Der Tallit erscheint hier als Symbolobjekt des jüdischen Glaubens, der die Trennung vom Weltlichen und die Verbindung zum Göttlichen verdeutlicht. Der Tallit dient zugleich als Schutz und als Kennzeichen.
VIII. Gehäuse
Die „Tallit“-Werke stehen in Zusammenhang mit dem Werk „T-Komposition 1“: ein weißes Gehäuse, auf dem die schwarzen, weißen und blauen Streifen des Tallit zu erkennen sind. Der Buchstabe T kann sowohl für Tallit als auch für Tor stehen, aber auch für Thora, das hebräische Wort für die Bibel. Diese drei Wörter sind inhaltlich eng zusammengebunden. Das Gehäuse ist geschlossen wie ein Tor oder ein Buch. Die Form des Gehäuses erinnert an eine geschlossene Thora und nicht zuletzt an eine „Mezuzach“, dieses kleine Gehäuse, das an jeder Eingangstür eines jüdischen Hauses angebracht wird. In seinem kleinen Inneren befindet sich ein auf Pergament handgeschriebenes hebräisches Gebet. Das Gehäuse, als Symbolobjekt für das Innere, das Verborgene, das Geistige. Das Gehäuse als Schutz und als Kennzeichen wie der Tallit.
IX. Jericho/ Massada
Zwei Werke, zwei gleich große Quadrate, zwei Strukturen mit Kern und Umkreisung. Die Farben Schwarz und Rot. Die zwei Kernstrukturen sind dreidimensional, zwei Namen, zwei Orte, zwei Zeiten, ein Anfang und ein Ende, die biblische Zeit, zwei Symbole, die über Jahrtausende überlebt haben. Ein Triumph und eine Tragödie.
Jericho: Der Kern, also die Stadt, ist schwarz. Die Spirale, die den Kern umkreist, ist rot. Sieben Mal umkreist sie den Kern, bis die Stadtmauern in Trümmern liegen. Das von Gott versprochene Gelobte Land konnte aufgebaut werden.
Massada: Der Kern, also die Festung auf dem Berg, ist rot. Die Kreise, die römische Belagerung, ist schwarz. Der letzte Kampf, das Ende von Juda, danach das zweitausend Jahre lange Exil. Selten wurde die Symbolik der Geschichte so klar gestaltet. Jeweils entgegengesetzte Kräfte, einerseits harte, auf sich zurückgezogene Kerne, andererseits Kreise, die Kerne einschließen und bedrohen. Anfang und Ende, Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung, Rot und Schwarz, Symbole, die aus der Realität entstanden sind, Geschichte, die Symbol geworden ist, Symbole, die sich am Ende von der Geschichte gelöst und durch die Kunst eine universelle, zeitenabhängige Bedeutung erlangt haben.