Solo exhibition Museum Gröbzig, 2014
Prof. Clemens Scholten
Ein Zugang
Ein Kunstwerk Igor Ganikowskijs zu verstehen ist leichter, als es zunächst scheinen mag, vorausgesetzt, man teilt die Gewißheit des Künstlers von der Existenz einer geistigen Wirklichkeit, der der Mensch bleibend ausgesetzt ist. Die Ernsthaftigkeit des Künstlers kommt jedem entgegen, in dem die Sehnsucht nach dem Nichtbeliebigen schlummert. Im Unterschied zu einer Kunstproduktion, die auf das Bild selbst fixiert ist, kommt es darauf an, sich dem zuzuwenden, wovon es kündet.
Das eigentliche Sein, so die Botschaft, ist unsichtbar, vermittelt sich aber abbildhaft ins Sinnenhafte des Kunstobjektes und kann dort aufgespürt werden. Das Kunstwerk hat wie in einer spätantik-neuplatonischen Theorie der Sprache bei Proklos (5. Jh.n.Chr.) oder Ammonios (6. Jh.n.Chr.) einen ambivalenten Charakter, denn es lebt einerseits von bekannten Konventionen wie zum Beispiel Symbolen der jüdischen oder dem Farbsinn der russischen Tradition und ist dadurch darauf angelegt, mit der Erfahrung des Betrachters vermittelt zu werden, andererseits ist es Sinnbild, das heißt, es zeigt das intelligible Sein nur verhüllend-analog an. Die Struktur des Kunstwerkes ist gleichsam die Grammatik einer sich spiegelnden Wirklichkeit. Als bedeutsamer Gegenstand weist es über sich hinaus, ist Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeinen, einer ganzen Gefühls-, Gesinnungs- und Geisteswelt, welche in ihm ahnungsweise Ausdruck gefunden hat. Daß immer nur Ausschnitte und Facetten ins Bild kommen, Einzelheiten im Werk sich sogar in manchen Fällen noch durch den Wechsel des Betrachterstandortes verschieben lassen, beruht auf der Fülle wie der Enthobenheit des Seins selbst.
Der geistige Kosmos ist in sich unabgeschlossen und prinzipiell nicht vollständig zugänglich. Er enthält nicht nur Ordnung und Klarheit, sondern auch Spannungen, Widersprüchliches und Gefährliches. Dementsprechend können die Bilder, wenn sich die Seele des Betrachters eingestimmt hat und sich ihr die angebotenen Schichten, Ebenen und Räume öffnen sollten, hochemotionale Wirkungen freisetzen, ohne daß dies mehr als nur ein Schritt auf dem Weg der Erkenntnis averbaler Zustände wäre. Es verwundert nicht, daß die künstlerischen Ausdrucksmittel weitgehend abstrakt-geometrisch gehalten sind, ist doch zum Beispiel schon im Liniengleichnis Platons das Mathematisch-Geometrische das Hilfsmittel zur Annäherung an die höchste Stufe des Geistigen (Platon, Rep. 509B/511E) oder im späteren Platonismus das die Unermeßlichkeit zergliedernde mittlere Prinzip zwischen reinem Denken und Sinnenwelt. Die Inhaltsreduktion des Kunstwerkes ist dem Unsichtbaren offenbar angemessener als eine konventionelle Motivik, die in der Gefahr steht, verbraucht zu wirken. Der Entschluß zur Abstraktion beruht auf der Erkenntnis, daß nur so eine Information gegeben werden kann, die anders nicht zu haben ist.
Läßt sich von einem solchen Ansatz den Wirkungen der Werke auf die Spur kommen, so geht es Igor Ganikowskij freilich weder um die Umsetzung eines philosophischen Programms, noch um die Schaffung einer Ideenwelt, noch um die Bewältigung einer selbstgestellten technischen Aufgabe beispielsweise der Materialformung oder der Beleuchtungsgestaltung, auch wenn bei näherem Zusehen durchaus Perspektive, Raumaufbau, Fluchtlinien, Wirkungen von Licht und Schatten oder andere bekannte Konstruktionselemente im Bild eine Rolle spielen können. Entscheidend ist der verkündete geistige Inhalt.
Auch wenn es überraschend klingt, die Gesetzmäßigkeiten der Abstraktion, die das Sein aufschließen, entstammen den Lebenserfahrungen Igor Ganikowskijs. Elementarerfahrungen wie zum Beispiel Trennung, Not, die Monotonie der Zwänge, die bedrückenden Vorgaben naher oder ferner Geschichte, das "Sich-Bewegen am Rande des Abgrundes", aber auch die Überwindung von Krisen, das Entronnensein, erlebte Stärke, der Schutz durch höhere Mächte und vieles andere sind Ausgangssituationen, die im Kunstwerk ins Verhältnis zum Allgemeinen gestellt sind. Je mehr diese Eindrücke bereits einer Läuterung im Lichte des Zeitlosen unterzogen sind, desto distanzierter, kälter mag das ins Werk gesetzte Ergebnis scheinen, desto häufiger berühren sie sich aber mit Grundthemen, welche schon die Geistestradition umgetrieben hat; nur als Beispiel seien Probleme wie das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit oder von Einheit und Vielfalt genannt. Es verwundert nicht, daß Gnosis, Neuplatonismus und Kabbala nicht nur Themenkonstellationen, sondern auch Erklärungsmuster für die Manifestation der Wirklichkeit im Werk bereithalten.
Der Künstler allein jedoch ist es, der für die Wahrheit seiner Einsichten bürgt. Gleich ob seine Werke in für den Betrachter Bekanntes oder Unbekanntes vorstoßen, sie haben daher prophetisch-visionäre Züge, ohne daß sie freilich Wirklichkeit selbst erschaffen wollen. Es wird verkündet, was gesehen wird, nachgeahmt, was schon vorkonstruiert ist. Weil Künstlerseele und geistiges Universum im sympathetischen Zusammenhang stehen, ist gleichzeitig der Anspruch universal. Die individuelle Erfahrung des Künstlers manifestiert das Allgemeine. Wie es häufig russischer und jüdischer Tradition entspricht, sind Mikrokosmos und Makrokosmos immer Schnittmengen, im Idealfall konzentrische Kreise.
Die Sprache der Botschaft knüpft an Ursprüngliches und Einfaches an, denn was tauglich ist, orientiert sich an dem, was die Zeit schon überdauert hat. Man lernt, daß besonders jüdische Chiffren einen Schatz von Menschheitssymbolen noch vor jeder religiösen Engführung bewahren. Die Ausdrucksmittel dieser Sprache sind gleichwohl ungebunden und variabel. Alle Elemente wie Farbe, Formen, Buchstaben und dergleichen können als Verweis dienen. Ob Farben eine feste Bedeutung haben, ist ebenso wie in der Ikonenmalerei ein Stück weit offen. Auch kann die Wirkung auf unterschiedlichen Wegen erzielt werden: Manche "Zeichen" wirken durch Ähnlichkeit, manche durch Analogie (vgl. Proklos, in Rem Publicam Commentarii II 151,4/9). Regelrechte Signalgeber können am Weg stehen: Falten, Tore, Filter, Symmetrien, die dritte Dimension und anderes lotsen an die Nahtstelle von dieser zu jener Welt und wollen über die Grenze führen.
Der Betrachter beginnt das Werk bereits zu verstehen, wenn er durch einfache Beschreibung ins Bewußtsein hebt, was er sieht, ohne daß er gelehrt oder tiefsinnig über Details grübelt und sie krampfhaft mit Bedeutungsschwere zu füllen versucht. Er kann das Objekt zum Leben erwecken, indem er es mit seinen eigenen negativen oder positiven Erfahrungen zusammenbringt. Je konkreter er Existentielles bei der Betrachtung mit hineinnimmt, desto unmittelbarer beginnt es zu sprechen. Entgegen der scheinbaren Unzugänglichkeit ist das Werk, ohne sich im mindesten an eine Rezipientenperspektive anzupassen, auf Kommunikabilität angelegt. Wie ein Musikstück erst beim wiederholten Hören seinen Gehalt entfaltet oder eine Knospe sich allmählich öffnet, erschließt sich der im Objekt angelegte geistige Reichtum erst bei längerem Hinsehen. Der Dialog mit einem Bild führt in eine offene Situation und ist prinzipiell unabgeschlossen. Er soll nicht zu meditativem Verschmelzen, sondern immer nur zum nächsten Schritt führen. Der Beliebigkeit der Assoziation wehrt der Rückbezug auf die Sache des Werkes selbst. Es gilt jedoch: Was heute offensteht, kann morgen verschlossen sein, was gestern stumm blieb, sich heute erschließen; manches kann dauerhaft abstoßen.
Das Werk dokumentiert jedoch nie allein eine Befindlichkeit, sondern hat läuternde Wirkung. Es bereichert, weil es nicht artifiziell ist und den Menschen nicht pädagogisch in ein Selbstverhältnis und damit in die Beziehung zum Sein führt. Wenn man so sagen darf, verbinden sich in einem Werk Igor Ganikowskijs Eigenschaften von Ikone, Andachtsbild und literarischem Drama.
Wer sich einmal im Verstehenszirkel befindet, berührt tiefer auch die ästhetischen Qualitäten der Werke Igor Ganikowskijs. In dieser Hinsicht besitzen seine Objekte ebenfalls eine große Anziehungskraft. Sogar solche, bei denen Bedrohliches im Vordergrund steht, strahlen in glücklichen Momenten Gelöstheit, Heiterkeit, Würde und Ernst aus. Denn sie führen aus höherer Warte das Leben vor und wecken manch -mal sogar die Hoffnung, daß es trotz allem gut ist. Das ist große Kunst.