Ganikowskij Igor
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Köln

Art-Cologne gallerie Pudelko Bonn, 2004

​Igor Ganikowskij.



Hoffen und Warten



Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte.
(Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches)


Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn wir einen neuen Kopf annähen würden.  




1. Was war, wird  wieder sein…


Es fällt nicht leicht, das Schreiben eines Textes zu beginnen, der im Wesentlichen dem menschlichen Denken gewidmet sein soll. Was auch immer man schreibt, wird sofort zur Unwahrheit. Nicht umsonst heißt es schließlich, dass alles Gesagte eine Lüge sei. Und dies gilt sicher in noch größerem Maße für alles Geschriebene, das der gleichen Logik folgt. Aber was sonst kann man als Mensch tun? Denn der Mensch kann schließlich nicht immer nur ein und den gleichen, nie wirklich zu fassenden Gedanken unendliche Male hin und her wenden. Solcherlei Texte wären nur von Computern zu lesen. 
Deshalb greifen die Menschen, um die Entwicklung eines Gedankens zu vereinfachen, in der Regel auf zwei einander entgegen gesetzte Positionen zurück: These und Antithese - und kommen auf diesem Weg zuweilen zur Synthese, was für das menschliche Denken bereits als großes Ereignis gewertet werden kann. Alle sonstigen Blickwinkel fallen dabei weg, was im Rahmen des dualistischen Denkens auch gar nicht anders sein kann. Zugleich scheint mir aber, dass die Menschheit als Ganzes über alle Zeiten gesehen alle Gedanken denkt und entwickelt. Dabei wird freilich ein und das gleiche oft unterschiedlich bezeichnet, was die Dinge endgültig verwirrt. Und all diese Ablagerungen haben das System bereits in einem solchen Maß verstopft, dass es bald überhaupt nicht mehr funktionieren wird. 


Die Zeit, die wir als Postmoderne bezeichnen, hat eigentlich schon immer bestanden. An dieser Stelle sei nur auf die Worte verwiesen, die bereits vor Tausenden Jahren im Buch Prediger geschrieben wurden: Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nicht Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: „Sieh, das ist neu“? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.


Dies verweist auf den Umstand, dass wahrscheinlich alle Ideen just zu jener Zeit geboren wurden, als auch die Welt entstand. Folglich kann jede Behauptung, etwas sei prinzipiell neu, schlicht nicht der Wahrheit entsprechen. Aber auch wenn all diese fundamentalen Ideen ewig sind und unserer Welt zugrunde liegen, so verbergen und öffnen sie sich doch immer wieder aufs Neue, werden kombiniert und aktualisiert. Darüber haben z.B. in den 60er Jahren der amerikanische Physiker David Bohm und der französische Philosoph Gilles Deleuze geschrieben, als sie von einem stetigen Einfalten und Ausfalten der Realität sprachen. 
Und bereits acht Jahrhunderte früher haben die Kabbalisten in der Lehre vom Baum Sefirot diesen Gedanken beschrieben. Tatsächlich ist diese Idee so alt wie die Welt und lässt sich zu allen Zeiten beobachten: Sowohl Pflanzen als auch Menschen entstehen und entwickeln sich aus einer verborgenen Ordnung. 
In seiner Theorie über die universelle Ordnung hat David Bohm geschrieben:
 
„The law of the explicate order therefore emerges as abstraction of what is actually an certain feature of a much larger implicate order… 
That is to say, the order of the world as a structure of things that are basically external to each other comes out as secondary and emerges from the deeper implicate order. The order of elements external to each other would then be called the unfolded order, or the explicate order… 
What I’m suggesting here is that the movement of enfolding and unfolding is ultimately the primary reality, and that the objects, entities, forms, and so on, which appear in this movement are secondary.“


Der Mensch nutzt das ihm gegebene Denken, um mit aller Kraft in den Bereich der verborgenen Ordnung vorzudringen, da sich just aus dieser alles entwickelt. Aber wie funktioniert dabei sein Denken?
2. Glaube und Ratio
Es existieren wohl zwei Arten des menschlichen Denkens: Glaube und Ratio. Der Glaube sieht einen sofortigen Übergang in den Bereich der verborgenen (impliziten) Ordnung vor, die Ratio eine allmähliche, schrittweise Annäherung an diese. Dabei ist die Menschheit als Ganzes bis zum heutigen Tag nicht einmal in elementaren Fragen zu einer einheitlichen Ansicht gelangt: Welcher Glaube ist der richtige? Kann uns die Ratio zu etwas führen, wofür sich auf Leben und Tod  zu kämpfen lohnt? Gibt es das, was wir Tod nennen, überhaupt?

An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass immer wieder versucht wird, die beiden Denkarten miteinander zu versöhnen (fast die gesamte Philosophie ist ein solcher Versuch). Aber das Resultat liegt auf der Hand: Wir befinden uns im Großen und Ganzen immer noch dort, wo wir bereits vor vielen Tausend Jahren waren. Und es ist abzusehen, dass der Mensch, wie wir ihn heute kennen, sich noch ebenso viele Jahre den Kopf über diese Probleme zerbrechen wird, ohne zu anderen Antworten zu kommen. Es ist und bleibt eine Sackgasse. 

Denn es scheint nur so, dass Glaube und Ratio einander ergänzen. Tatsächlich sind sie in höchstem Maße gegensätzlich und schließen einander im menschlichen Leben aus. Gerade darin besteht die Tragik des Menschen bzw. des menschlichen Denkens. Wahrer Glauben negiert jegliche rationale Deutung der Welt. Und die auf der menschlichen Logik basierende Ratio – und eine andere kennt der Mensch nicht – belächelt die „Phantasien“ des Glaubens. Der Glaube duldet keine Reflexion, er gebietet: Geh dorthin, mach dies, dies ist verboten, jenes geboten… 
Die – von der Angst blockierte – Ratio wiederum versucht alles zu reflektieren und bietet einen Haufen Lösungen an, in denen der Mensch sich aber verirrt.
Darüber ist vieles geschrieben:«Kann es sein, dass das Wissen zum biblischen „Du wirst des Todes sterben“ führte, der Glaube aber zum Baum des Lebens? ... Und hatten nicht die Philosophen der Antike und des Mittelalters recht, die der von Gott geschaffenen Welt die ideale, von menschlichem Verstand geschaffene Welt vorzogen und in letzterer das „höchste Wohl für den Menschen“ erblickten? … Auf der einen Seite steht Sokrates mit seinem „Wissen“, der sich in seine ideale Welt zurückgezogen hat, auf der anderen Seite die biblische Legende vom Sündenfall und der Apostel, der diese Legende interpretiert, indem er erklärt: „Alles, was nicht vom Glauben ist, ist Sünde“. … Innerhalb der „Grenzen der Vernunft“ lässt sich eine Wissenschaft, eine hohe Moral und sogar eine Religion schaffen, um aber Gott zu erkennen, muss man sich von den Verführungen der Vernunft mit all ihren physischen und moralischen Zwängen lösen und eine andere Quelle der Wahrheit suchen. In der Heiligen Schrift trägt diese Quelle den geheimnisvollen Namen „Glauben“, welcher jene Dimension des Denkens ist, wo sich die Wahrheit freudig und schmerzlos in die ewigen und unkontrollierbaren Hände des Schöpfers begibt: Herr, dein Wille möge geschehen.» - so schrieb L. Schestow in seinem Werk „Athen und Jerusalem“, das sich  ganz dem Problem der Beziehung von Glauben und Ratio widmet. 
Gibt es für den Menschen wenigstens eine theoretische Möglichkeit, Glaube und Ratio einander anzunähern? Ich denke nicht. Denn es gibt Systeme bzw. Räume, in denen die Lösung bestimmter Aufgaben prinzipiell nicht möglich ist. In unserem Fall liegt es auf der Hand, dass der Mensch, sobald er sich der Ratio zuwendet, augenblicklich seinen Glauben verliert, und wahrer Glauben nicht der blockierenden Kontrolle der Ratio bedarf.
3. Philosophie und Wissenschaft
Es scheint nahe liegend, unsere Möglichkeiten des rationalen Denkens der Einfachheit halber in zwei Typen zu unterteilen – das wissenschaftliche und das philosophische Denken. Während sich das wissenschaftliche Denken fast immer linear und chronologisch bewegt und uns auf diese Weise vielleicht tatsächlich einem Verständnis der verborgenen Ordnung näher bringt, bewegt sich das philosophische Denken – das in der letzten Zeit fast vollständig zu Poesie geworden ist – kreisförmig und erörtert im großen und ganzen die immer gleichen Probleme. Dabei besteht keine Möglichkeit zu bestimmen, ob sie etwas auflöst, alles immer nur noch weiter verwirrt oder beide diese Prozesse in gleichem Maße vollzieht. 
Wozu existiert überhaupt ein philosophisches Denken, wenn es doch nur „alles verwirrt“? Wird es immer existieren oder begleitet es den Menschen nur auf einer bestimmten Etappe? Alle diese Fragen sind nicht aus der Luft gegriffen. Man möge sich nur an den zwischen 1996 und 2002 in den USA und Europa (hier vor allem in Frankreich) ausgetragenen Konflikt erinnern, der in der Literatur und beim Publikum unter dem Begriff „Science Wars“ bekannt wurde. Der New Yorker Mathematikprofessor Alan Sokal hatte zusammen mit Jean Bricmont das Buch „Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaft missbrauchen“ herausgebracht, in dem er den Versuch unternahm, die „Kanons der Rationalität und intellektuellen Aufrichtigkeit zu schützen“, die für alle Natur- und Geisteswissenschaften allgemein seien und sein müssten. 
Das Buch konstatiert eine „tiefgreifende Indifferenz und zuweilen sogar Verachtung gegenüber Fakten und Logik“ bei so einflussreichen Philosophen wie Jaques Lacan, Jean Baudrillard, Julia Kristeva, Jaques Derrida, Gilles Deleuze, Felix Guattari u.a. sowie bei deren Vorläufern Henri Bergson und Michel Foucault. Nach Einschätzung Sokals vergifteten mangelnde intellektuelle Gewissenhaftigkeit und wahnwitzig unverständliche Argumentationen, hinter denen im wesentlichen nichts stehe, einen großen Teil des intellektuellen Lebens und beförderten lediglich die Ausbreitung eines allgemeinverständlichen Antiintellektualismus. Die Aufgabe des Intellektuellen solle in der „Demystifizierung der vorherrschenden Diskurse“, nicht aber im Hinzufügen eigener Mystifizierungen bestehen. Das Buch führt eine riesige Zahl an Zitaten aus den Werken der oben genannten Philosophen an, die deren oft vollkommene Sinnlosigkeit belegen, insbesondere bei deren freiem Jonglieren mit wissenschaftlichen Begriffen und Definitionen. 
Bei diesem Konflikt zeigte sich wieder einmal das Bestreben der Wissenschaft, die Richtigkeit ihrer eigenen Position zu verteidigen und die Verantwortung für die fehlende Ordnung der Welt auf die Philosophie und teilweise auch auf die Literatur und Kunst abzuwälzen. Dieser Konflikt hat immer existiert und existiert bis zum heutigen Tag. 
Das klassische Beispiel für ein besonders reines wissenschaftliches Denken ist natürlich die Mathematik. Alle Betrachtungen werden innerhalb eines klar definierten, durch Axiome vorgegebenen Koordinatensystems vollzogen. Alles Weitere baut konsequent und stufenweise auf dieser Basis auf – unter Verwendung fester Theoreme. Was eigentlich gebaut werden soll, ist nicht bekannt, aber der Vektor der Bewegung ist gegeben. Zum Erfolg trägt ferner bei, dass es keiner Unzahl von Interpretationen ein und derselben Begriffe bedarf, was eben die Besonderheit einer formalisierten Sprache darstellt. 
Für das philosophische Denken sieht alles ein bisschen anders aus. Es gibt keine Axiome, da es kein allgemein anerkanntes Koordinatensystem gibt. Und indem wir diese immer wieder aufs Neue erfinden, kommen wir zu unterschiedlichen Lösungen. Deshalb gibt es auch kein Fundament, bzw. genauer gesagt, gibt es immer wieder neue Versuche, etwas in der Art eines Fundaments zu bauen, dessen in die Erde eingelassenen Stützpfähle aber nicht lang genug sind, um dauerhafte Stabilität zu gewährleisten. Also gerät alles sofort wieder ins Wanken und muss von neuem begonnen werden. Mit jeder neuen Forschergeneration wird alles umbenannt, nur um doch wieder zum gleichen Resultat zu gelangen. Und so läuft es schon immer seit Bestehen der Menschheit. Und während Millionen Menschen immer wieder neue Ansätze wählten, um  zur Wahrheit zu gelangen, sind sie am Ende doch immer nur wieder gegen die immer gleiche Wand gelaufen.
Während sich das wissenschaftliche Denken mit einem Fluss vergleichen lässt, der einer Quelle entspringt, in seinem Strömen immer breiter wird und sich wie jeder Fluss das Potential bewahrt, in einen See, ein Meer oder einen Ozean zu münden, erinnert das philosophische Denken eher an einen Sumpf, auch wenn die zwei Gewässer wahrscheinlich durch unterirdische Wasserflüsse miteinander verbunden sind. 
Es gab immer wieder Versuche der Philosophie, untermittelbar Einfluss auf das Leben zu nehmen: noch zu unseren Lebzeiten etwa den Aufbau der „sozialistischen Gesellschaft“, als der Mensch nicht warten wollte und sich daranmachte, das Leben künstlich nach seiner Ratio zu verändern. Das Resultat ist bekannt. Übrigens ist interessant anzumerken, dass dieses Experiment von Atheisten durchgeführt wurde, was uns noch einmal zeigt, dass Glaube und Ratio, auch wenn sie nicht kompatibel sind, nichtsdestotrotz auf paradoxe Weise untrennbar zusammenhängen. Natürlich war Karl Marx ein großer Philosoph, aber der Versuch, die Dinge zu beschleunigen und seine Ideen vor ihrer Zeit Realität werden zu lassen, musste ein tragisches Ende nehmen. Hundert Jahre später scheinen die sozialistischen Ideen heute erneut am Horizont auf, da in unserer Welt nichts verschwindet und nichts aus dem Nichts entsteht. „Alles hat seine Stunde“, heißt es im Buch des Predigers. Man muss nur glauben und warten. Es ist schon seltsam, dass langfristige Prognosen fast immer auf einen Glauben hinauslaufen, der auf rationale Beweise wartet. 
Heute lässt sich wahrscheinlich schon konstatieren, dass sich das wissenschaftliche Denken endgültig von der Macht der Philosophie emanzipiert hat und sich das Recht darauf angeeignet hat, die Endziele des menschlichen Lebens und seines Tuns in der Welt selbst zu bestimmen. Das Leben hat uns gelehrt, dass man sich auf die Philosophie nicht uneingeschränkt verlassen sollte, da sie doch nur ein Glasperlenspiel ist.
4. Kultur als Dekoration 
Wenn dies aber so ist, stellt sich die Frage, wozu es das philosophische Denken überhaupt gibt und ob es immer bestehen wird. Ich tendiere zu der Annahme, dass es eben so lange bestehen wird wie auch der Mensch selbst. Und seine Aufgabe besteht gerade darin zu verwirren, denn die Verwirrung wird als Mechanismus gebraucht, um die Zeit zu regulieren.   Es dient dazu, Dekorationen zu errichten, um die verborgene Ordnung bis zum Tag X zu bewahren, um die Frucht in der Schale zu schützen. Phoibos Apollon blendet, die Schleier der Göttin Maya camouflieren, lassen das eine für etwas anderes nehmen. Marmor lässt einen rutschen, wenn er mit Wasser bedeckt ist…
Es handelt sich offensichtlich um Elemente eines Programms, das uns in die Irre führt und uns Ideen nicht so sehen lässt, wie sie sind. Es ist wohl so, dass unser Denkvermögen nicht ausreicht, um Ideen-Konstruktionen korrekt zu sehen. Anstelle der zur verborgenen Ordnung gehörenden Konstruktionen sollen wir uns an Dekorationen ergötzen, die diese verdecken. Von diesen Dekorationen gibt es unendlich viele, und sie führen unsere Ratio immer wieder aufs Neue in Versuchung. Natürlich möchte ich damit keineswegs sagen, dass alles von Kant, Derrida, Spinoza, Russell, Leibniz, Heidegger, Nietzsche, Bergson, Marx und vielen anderen Geschriebene nicht stimmt. Ganz im Gegenteil: Alles, worüber diese und Millionen vor ihnen nachgedacht haben, ist richtig, selbst wenn es einander nach menschlicher Logik widerspricht. Zugleich aber ist es nur ein Teil der Wahrheit. Und die Wahrheit selbst ist so groß, dass kein einzelner Mensch sie überblicken kann. Diese Möglichkeit kann sich der Menschheit nur dann eröffnen, wenn diese Zwietracht und Unterschiede überwindet und vereint zu agieren beginnt. 
Es braucht Zeit, bis etwas Wichtiges in uns heranreift. Und solange das Kind klein ist, darf man es nicht mit Feuer spielen lassen. Aber ich bin mir sicher, dass wir das Kindesalter bereits hinter uns gelassen haben und uns mit großen Schritten einer neuen Seinsstufe nähern. So wie es sich über Jahrhunderte herausgebildet hat, reicht unser Denken schon nicht mehr aus, um mit den in letzter Zeit entwickelten Hochtechnologien zu leben – mit Technologien, die es erstmals in der Geschichte des Menschen möglich machen, den Menschen selbst physisch und mental zu verändern. 
Tatsächlich hat dieser Prozess schon vor langer Zeit begonnen: Pflanzen wurden gekreuzt, um neue entstehen zu lassen, die gegen Schädlinge oder Frost resistent waren… Exakt das gleiche sehen wir heute auf der Stufe der Tiere, und es steht außer Zweifel, dass als nächstes der Mensch an die Reihe kommt. Vielleicht lässt es sich folgendermaßen sagen: Was den Religionen bzw. dem Glauben nicht gelungen ist, wird womöglich durch die Wissenschaft realisiert. Was auf mentaler Ebene nicht möglich war, wird durch die rationale Zivilisation vollbracht. Die Menschen werden gezwungen werden oder genötigt sein, sich selbst mechanisch zu ändern. Und diese fundamentale Umwandlung des Menschen beginnt schon bald. Und es wird eben die Menschheit selbst sein, die diesen Prozess steuert, denn vergleichbare andere Kräfte sind in der Welt schlicht nicht zu finden. Und erst dann wird es – hypothetisch gesprochen – möglich sein, einen Verstand zu konstruieren, der Glaube und Wissen in sich vereint. Aber dieser wird schon nicht mehr dem Menschen gehören, sondern dessen zukünftigem Ebenbild. 
Verändert sich der Mensch mit der Zeit? Diese Frage ist sowohl zu bejahen als auch zu verneinen. Er verändert sich insofern nicht, als er immer der Typ geblieben ist, den wir kennen. Ihm ist kein drittes Auge oder weiteres Handpaar gewachsen. Im Unterschied zur Evolution der Tiere hat sich der Mensch bis zum heutigen Tag nach einem ganz anderen Plan entwickelt: Er hat sich nicht selbst verändert, sondern immer neue mechanische Geräte erfunden, um seine natürlichen Fähigkeiten erheblich zu stärken. 
Auf der anderen Seite hat sich der Mensch in der Tat stark verändert, nicht physisch, aber mental. Wenn wir z.B. den mittelalterlichen mit dem heutigen Menschen vergleichen, lassen sich kolossale Sprünge in seiner Wahrnehmung des Lebens konstatieren. 
Man könnte also sagen, dass sich zwar nicht der Mensch, wohl aber die Dekorationen verändert haben. Oder noch anders gesagt: Nicht der Mensch ändert sich, sondern die Menschheit als Ganzes, die die Dekorationen hervorbringt, durch die für den einzelnen Menschen die Illusion von äußerlicher Veränderung geschaffen wird. Dieser Prozess vollzieht sich tagtäglich, aber jetzt ist für die Menschheit der Zeitpunkt gekommen, wo sie die Kraft hat, sich selbst zu verändern. Wir entfernen schon lange Überflüssiges, was uns das Leben erschwert, und fügen anderes hinzu, was unser Leben erleichtert. Wichtig ist aber, dass wir bei diesen Sprüngen in Zukunft unser Denken verändern können, denn gerade dies hält uns in Gefangenschaft. 
Es fällt mir schwer zu glauben, dass wir dafür der Hilfe Außerirdischer oder eines von außen kommenden Messias bedürfen. Warum sollte dies nötig sein, wenn wir doch selbst in der Lage sind, die ganze Welt einem in uns selbst angelegten Programm entsprechend umzuformen. Und es ist längst allen klar, dass dies möglich ist. Von einer solchen Perspektive hat schon vor über hundert Jahren Nietzsche geschrieben, obwohl er weder Computer, noch Klone, noch Nanotechnologie kannte.
5. Mechanismen der Verwirrung 
Wenn wir nun auf das geisteswissenschaftliche Denken zurückkommen, lässt sich  erkennen, dass es praktisch nur einen einzigen, sehr einfachen Mechanismus der Verwirrung gibt: Das Eintauchen unserer Welt bzw. unserer Ratio in Unterschiede, eine Sprachverwirrung, die ohne Zweifel mit einer zunehmenden Individualisierung und Ichbezogenheit in Zusammenhang steht. Man möge sich in diesem Zusammenhang nur des Gleichnisses vom Turmbau zu Babel erinnern. Dieser Mechanismus, der sich in der Geschichte immer stärker beschleunigt hat, erreicht heute seinen Höhepunkt, wo es nur noch „Interpretationen von Interpretationen“ und „Spuren von Spuren“ gibt. Natürlich könnte man sich auch in Zukunft weiter in diese Richtung bewegen, alles noch weiter präzisieren und zergliedern, nur um tatsächlich für noch größere Verwirrung zu sorgen bzw., wie Sokal es ausdrückt, die Situation zu mystifizieren. Meines Erachtens aber neigt sich die Zeit dieses Diskurses ihrem Ende zu. Es bringt schon nichts mehr, immer nur auf einer Stelle zu treten. Vielleicht liegt übrigens gerade hier der Grund dafür, dass viele zeitgenössische Philosophen ihre Spekulationen mit neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen unterfüttern, von denen sie gar nichts verstehen. Denn nur auf diesem Weg können sie etwas Neues in Umlauf bringen und erneut alles verwirren. 
Mus dem oben Gesagten wird allerdings auch klar, dass wir selbst der Verwirrung bedürfen, solange nicht die Apokalypse über uns kommt. Denn letztere bedeutet in der Übersetzung aus dem Griechischen nichts anderes als „Entfernung der Schleier“, was sich ebenso gut als „endgültige Enthüllung der Wahrheit“ lesen lässt. 
Erst zu dem Zeitpunkt, der sich als Apokalypse, Punkt Omega, Ankunft des Maschiach, Messias oder Mahdis sowie durch Tausende andere Definitionen bezeichnen lässt, und der letztlich den Moment der Vernichtung des Menschen und seine Ersetzung durch den Über- bzw. Metamenschen darstellt, können alle Gedanken in einem neuen Denken zusammenfließen, das schon nicht mehr dem Menschen gehört. Bei diesem Denken, das ich als holographisch bezeichne, können alle Ideen einzeln und gleichzeitig von allen Seiten betrachtet werden. Aber auf dem heutigen Level unseres Verstands sind wir nicht in der Lage, dies zu tun. Just hier liegt die Wurzel unserer mentalen Beschwerden und Krankheiten. 
Natürlich möchte ich noch einmal unterstreichen, dass es viele den Geisteswissenschaften zugehörige Menschen gab, die intuitiv zu wichtigen, die Konstruktion unserer Welt bildenden Ideen vorgedrungen sind. Und fast alle von ihnen haben für ihr Wissen einen sehr hohen Preis zahlen müssen, wie immer, wenn jemand den Ereignissen vorgreift. Aber selbst wenn sie diese Ideen erlangt und oft mit ihrem Leben dafür bezahlt haben, so war dies doch nur ein Aufflackern von Entdeckungen, für die es keinen Beweis gab, und an die man nur glauben konnte. Aber der Mensch muss die Dinge immer anfassen oder wenigstens mit eigenen Augen sehen können. Daran ändert auch nichts, dass er über die nötigen Sinne verfügt, um lesen zu können. Denn alles, was er lesen kann, sind Dekorationen. 
In diesem Kontext sei an die wichtige Stelle aus dem Alten Testament erinnert, als Adam den Apfel  der Erkenntnis kostet und  er ihm mundet. Sofort öffnen sich ihm die Augen (sie waren also bis dahin geschlossen). Aber es handelt sich offenkundig um Augen, die alles verzerrt sehen, so wie eine rosa Brille einen alles in rosafarbenen Tönen sehen lässt. 
Ein höchst kunstvolles Element, um den Menschen von der Wahrheit abzulenken, ist auch die Angst, die jeden von uns eingepflanzt ist. Genauer gesagt, durchdringt den Menschen die Angst, sobald er Wissen erlangt und den Glauben verliert. Einerseits schützt die Angst natürlich den Menschen, andererseits aber verdreht sie alles in uns und verwandelt gerade Linien in krumme. Wir sind heute von allen möglichen Arten individueller und kollektiver Ängste erfüllt: Angst vor Krankheit, Schmerzen und Tod, Fremdenangst, Angst vor dem Feind… Und sobald sie von uns Besitz ergreift, verändert die Angst die gesamte Chemie unseres Hirns. Je stärker die Angst Einfluss auf unser Denken nimmt, desto schrecklichere Bilder ruft sie in unserer Phantasie hervor, die die Angst wiederum nähren. So lässt sich schon nicht mehr klar denken und alles wird deformiert. 
Die Menschen fürchten wie alles Lebendige den Tod, auch wenn sie sich ihn nicht einmal vorstellen können und niemand weiß, was wirklich passiert, wenn er einen erreicht. Vielleicht ist er ja der einzige Weg zur radikalen Umgestaltung des eigenen Seins, und ganz und gar nicht das Ende. Die Angst ist eine unterbewusste Reaktion, die mit Intellekt und Phantasie durcheinander gerät. Mittlerweile haben Wissenschaftler schon die Zentren von Wohlbehagen und Angst lokalisiert, so dass auch eine physische Einwirkung auf diese im Rahmen des Möglichen liegt. 
In Fjodor Dostojewskijs „Dämonen“ träumt Kirillow von neuen Generationen, von Menschen, die ein richtiges Verständnis ihrer selbst und ihrer Bestimmung in der Welt erlangt haben, die wahre Freiheit erlangt und deshalb verstanden haben, dass der Tod für die Realisierung der höchsten Ziele des Menschen keine Bedeutung hat: „Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch. Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen. Wem es ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht, der wird ein neuer Mensch sein. Wer den Schmerz und die Furcht überwindet, der wird selbst ein Gott sein. Und jener Gott wird dann nicht sein…
Dann wird ein neues Leben sein und ein neuer Mensch; alles wird neu sein…
Der Mensch wird ein Gott sein und wird sich physisch umgestalten. Auch die Welt wird sich umgestalten, und die Dinge werden sich umgestalten und die Gedanken und alle Empfindungen.“ 


Es gibt noch ein weiteres wichtiges Element bei der Schaffung von Illusionen: die Tatsache, dass die Veränderungen ebenso allmählich wie kontinuierlich sind. Jeder weiß, dass man Veränderungen bei einem Menschen, mit dem über viele Jahre Seite an Seite lebt, kaum wahrnimmt, während diese bei einem Menschen, den man lange nicht gesehen hat, sofort ins Auge springen. Deshalb bemerken viele Menschen die Veränderungen der Dekorationen nicht, da diese immer wieder fließend ineinander übergehen. 
6. Kultur als Warnung
Natürlich kann man fragen, was denn mit den menschlichen Gefühlen sei, auf die die geisteswissenschaftliche Kultur ja spezialisiert ist. Und einstweilen ist diese Frage sicher durchaus berechtigt. Aber auch ein Geruch lässt sich heute schon durch eine exakte Formel beschreiben, ebenso Geräusche und Farben. Die Welt wird digitalisiert. Und das heißt, dass sich die Wissenschaft auch in diesem Bereich anschickt, die Poesie zu verdrängen, für Ordnung zu sorgen, alles zu strukturieren und das Chaos in Kosmos zu verwandeln. Zeitgenössische Bücher zum Strukturalismus sind mit mathematischen Formeln gespickt. Die Dichter selbst lesen und verstehen sie nicht mehr. Sie sind nicht im Geringsten auf die Welt vorbereitet, deren Zeit nun anbricht, auch wenn viele versuchen, über Mengen und Teilchenbeschleuniger zu reflektieren. Das Resultat ist bekannt: ihre vollständige Zurückweisung von Seiten der Profis. 
Zugleich aber scheint mir, dass der geisteswissenschaftlichen Kultur eine andere wichtige Aufgabe zukommt, die gewissermaßen im Schatten unseres Denkens steht: die Menschheit zu den Veränderungen hinzuleiten und psychologisch vorzubereiten. Denn tatsächlich kann diese Gruppe von Menschen, die über ein hohes Maß an Intuition verfügen und vieles vage erspüren (wüssten sie es genau, wäre es ja schon eine Wissenschaft), anderen Menschen diese wertvolle Information über Fernsehen, Radio, Tanz, Musik, Bildende Kunst, Poesie usw. weitergeben. 
Alles, was irgendwann nur in der Phantasie existierte, wurde inzwischen in die Realität umgesetzt oder in noch weitergehender Form realisiert. Ein Airbus bietet mehr Komfort als ein fliegender Teppich, und das Tischlein-Deckdich lässt sich ohne weiteres mit einem modernen Supermarkt vergleichen. Heutzutage sind die Kinoleinwände voller Roboter, Klone und Cyborgs. Und schon bald werden wir diesen wohl auch auf unseren Straßen begegnen. Und just dank der Kunst wird dies für uns nichts Unerwartetes sein. Wir sind psychologisch schon auf ein solches Treffen vorbereitet. 
Wenn wir unseren Blick in die Vergangenheit richten, sehen wir genau dies: Alle menschlichen Phantasien sind schon ins Leben übergegangen. Und während dafür früher Jahrhunderte benötigt wurden, sind es jetzt Jahre. Wenn dies so weitergeht, wird Hollywood bald nichts mehr zu tun haben. 


7. Der Metamensch
Geht man einmal davon aus, dass der Mensch nicht die Krönung der Schöpfung und weder unsere Ratio noch unsere Welt das Maß aller Dinge ist, dann ist anzunehmen, dass der Mensch durch einen anderen ersetzt werden wird – durch den Metamenschen. Damit das geschieht, braucht es eigentlich nur eins: ein vollkommeneres Denken, ein auf einer anderen Ebene angesiedeltes Denken. Und wir stehen schon kurz vor dem Ziel. Das ist schon keine Phantasie mehr, sondern eine Realität, die vor der Tür steht. 
Natürlich bildet just die Menschheit das Medium, aus dem der Metamensch hervorgehen wird. Wahrscheinlich ist er schon seit Ewigkeiten in uns, so wie wir auch in ihm sind. Je mehr er aber heranwächst, desto mehr Rechte nimmt er sich und zwingt seine Eltern zu Gehorsam. Schon heute ist die Menschheit dem Metamenschen fast schutzlos ausgeliefert – erinnern wir uns nur der Rebellionen Nietzsches, Dostojewskijs, Ionescos oder Bunuels… und dies obwohl er sich noch im Stadium der Reifung befindet. Und wenn die Zeit erst reif ist, dann wird er vollständig über den Menschen gebieten. 
Niemand anders als die entwickelte Menschheit (also der Metamensch) wird letztlich den Menschen verdrängen. Und mir scheint, dass die einzige Möglichkeit, unsere nicht zu lösenden Probleme schließlich doch noch zu lösen, darin besteht, ihre Lösung in ein anderes Koordinatensystem zu verlegen, wo eine Antwort zu finden ist. Daraus folgt, dass eben der Metamensch, der letztlich nichts anderes ist als der transformierte Mensch, über das Potential verfügt, eine stärkere und vollkommenere Ratio zu erlangen. Und das wiederum heißt nichts anderes, als dass er für uns zu einem Gott werden kann, über den wir im Moment noch nicht einmal nachdenken können, weil er die Grenzen unserer Ratio übersteigt. 
So werden in diesem neuen Welt-Raum Menschheit, Metamensch und Gott eins sein. In  dieser Formel steht die Menschheit zur Seiten Gottes. Ratio und Glauben fallen zusammen. Vielleicht liegt eben hier auch der Sinn des aus vier Buchstaben bestehenden Namens des Gottes der Juden: Ich bin der, der ich sein werde. So nannte er sich gegenüber Moses beim ersten Treffen. 
Natürlich wird das alles nicht von einem Moment auf den anderen passieren. Dafür braucht es Zeit. Man muss nur hoffen und warten. 

8. Rembrandts Prophezeiung

Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum hängt eines der letzten Selbstporträts Rembrandts. Diese im Jahr 1669 entstandene, kleinformatige Arbeit gehört für mich zu den prophetischsten seiner Werke. Um eine solche Arbeit zu malen, reicht es natürlich nicht aus, lediglich ein herausragender Meister zu sein. Man muss auch ein entsprechendes Leben durchlebt haben. Rembrandts Leben war ein typisches menschliches Leben, ein Leben wie es jeder durchlebt. Gleichzeitig aber zeichnete sich dieses Leben  durch ein ungewöhnliches Relief aus. Es gab Höhenflüge und Abstürze. In der ersten Hälfte seines Lebens, als deren Abbild sein berühmtes Selbstporträt zusammen mit Saskia aus dem Jahr 1638 gelten kann, war er mit weltlichen Gaben überhäuft – er war mit Ruhm, Liebe, Geld und Ansehen gesegnet. 
Natürlich hatte er das alles verdient (oder es war Teil eines Plans). Später aber hat ihm das Leben – wie dies häufig geschieht – alle diese weltlichen Gaben wieder genommen. Seine Kinder starben, kaum dass sie geboren waren, eins nach dem anderen. Er verlor seine Frau, die er über alles geliebt hatte. Sobald er zu malen begann, was nicht den Vorstellungen seiner Zeitgenossen entsprach, verlor er Aufträge und später Geld, sein herrliches reiches Haus, seine umfangreiche Bildersammlung. Später starben auch seine zweite Frau und der einzige überlebende Sohn Saskias Titus. Es folgten völlige Vergessenheit und Demütigungen. 
Und dann schließlich das letzte Selbstporträt: ein gebeugter zahnloser Alter mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht, das sich schlicht nicht beschreiben lässt. Ein solches Lächeln dürften nur Leute haben, die viel durchgemacht haben, die viel durch Leben geirrt sind, aber schließlich trotz allem einen höchsten Punkt erreicht haben, von dem aus sich ihnen etwas zuvor Unerreichbares erschließt und verständlich wird. Es ist doch durchaus möglich, dass der Mensch seinen Höhepunkt erreicht, wenn ihm der Schleier von seinen Augen fällt, alles Weltliche wie eine leere Hülle von ihm abfällt und er sich – wie auf diesem Bild – in Licht verwandelt. 
Aber auf diesem Selbstporträt gibt es noch etwas anderes, was auch für Rembrandt selbst ungewöhnlich ist. Vor ihm ist eine Figur zu sehen, die einem Menschen ähnelt, mehr noch aber einer Modellpuppe, oder wie wir heute sagen würden – einem Roboter oder Cyborg. Dabei gilt das gequälte Rembrandtsche Lächeln ganz offenkundig dieser Figur, in deren Richtung er mit seinem Malstock zeigt. Es ist also so, dass der von seinem Lebensweg gequälte und ausgelaugte Mensch mit letzter Kraft eine Höhe erklimmt. Und was sieht er dort? Eine Puppe, die bar jeder Emotionen ist. Wenn auf dem kurz vor dem Kölner Selbstporträt entstandenen Bild „Die Rückkehr des Verlorenen Sohnes“ aus der Petersburger Eremitage der Vater seinem Sohn alles verzeihend die Hand auf die Schulter legt, ihn umarmt und an sich drückt, ist diese Szene ungewöhnlich emotional. Auch auf dem Kölner Bild ist ein überaus wichtiges Treffen beschrieben, aber vollkommen anders – ein Treffen mit dem blinden Schicksal, mit dem mechanischen, „digitalen“ Bild seiner selbst. Vielleicht ein Treffen mit der Druckplatte, von der er gedruckt wurde, ein Treffen mit dem, der  ihm folgt? 


9. Metakunst und Metawissenschaft 


Natürlich haben die Menschen früher philosophiert, ohne alle die Dinge zu kennen, die uns die neuen Technologien bescheren. Und nach uns werden die Menschen wahrscheinlich Dinge im Fernsehen sehen, die wir uns heute noch nicht einmal vorstellen können. Aber wenn man dieses Paradigma annimmt, muss man sich wohl dazu erziehen, auf die Dinge nicht mehr vom Standpunkt des einzelnen Menschen zu sehen, sondern vom Standpunkt der gesamten Menschheit. Und plötzlich steht alles in einem anderen Licht da. Übrigens ist Marx der Wahrheit wahrscheinlich auch deshalb so nahe gekommen, weil er in Kategorien der Menschheit und nicht des Menschen gedacht hat. Denn je steiler der Berg ist, den wir besteigen, desto weiter ist der Blick auf die Umgebung. Und desto mehr unnötige Details werden gelöscht. 
Der Metamensch wird seine eigene Kunst und seine eigene Wissenschaft schaffen. Und dieser Prozess hat schon begonnen. 
In seinem Anfang des 20. Jahrhunderts verfassten berühmten Buch „Der Untergang des Abendlands“ trauerte Oswald Spengler der menschlichen Kultur und ihren über Jahrhunderte angehäuften Werten nach. Seines Erachtens degenerierte die sterbende organische Kultur in ihr Gegenteil – in eine von blankem Technizismus beherrschte Zivilisation, in der Sterilität und Erstarrung Kreativität und Entwicklung verdrängten. Schon vor Spengler hatten russische Schriftsteller und Philosophen von Iwan Kirejewskij und Wladimir Solowjew bis Lew Tolstoj und Fjodor Dostojewskij ihre Ablehnung der neuen Welt gegenüber zum Ausdruck gebracht und sich Fragen der Gottlosigkeit der europäischen Kultur bzw. der Frage der europäischen Zivilisation gewidmet. 

Spenglers Prophezeiung – der Tod der europäischen Kultur – setzt sich vor unseren Augen fort. Mittlerweile ist die Diskussion freilich schon  zum Tod des Menschen an sich fortgeschritten, aber das konnte Spengler vor 100 Jahren ebenso wenig sehen, wie wir heute sagen können, welche Perspektiven sich in 100 Jahren eröffnen werden. Alles hat seine Zeit – auch die Gedanken. 

Spengler zwingt sich zu glauben, dass auf jeder Aktionärsversammlung eines großen Unternehmens unvergleichlich mehr Verstand und Talent zusammenkämen als bei allen zeitgenössischen Künstlern zusammen. Er träumt davon, durch sein Buch möglichst viele junge Menschen vom Weg des sinnlosen und zu seiner Zeit unmöglichen Musendienstes abzubringen, um sie zu Ingenieuren oder Chemikern zu machen. 

Und auch in diesem Punkt sollte er Recht behalten. Schauen wir doch, was vor unseren Augen in der Kultur passiert, die schon immer eine konzentrierte Spiegelung des Zustands einer Gesellschaft war. 
Wahrscheinlich kommt man nicht umhin, Marcel Duchamps (und nicht etwa Kasimir Malewitsch) mit seinem als Kunstobjekt ausgestellten Pissoir als wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts anzusehen. 
Im Lichte der hier betrachteten Ideen war just dieses Pissoir das erste auf einer Ausstellung gezeigte Objekt der modernen Geschichte, das nicht vom Menschen (und nicht einmal von einer Gruppe Menschen), sondern von der Menschheit geschaffen wurde. 
Bei dieser künstlerischen Geste ist erstmals das Individuelle abhanden gekommen. Der Mensch sollte sich am Öffentlich-Kollektiven begeistern. Und was nicht alles im Gefolge Duchamps in die Museen gekarrt wurde und immer noch wird: Maschinen, Eisen- und Holzteile, Schotterhaufen, Räder, Schrauben, Stiefel,  jede Art von Plunder oder Nichts ...Dabei wird all dies in gewisser Weise in den Tempeln der Kunst sakralisiert. Gleichzeitig aber werden die Museen selbst entsakralisiert, indem man sie zu Speicherhallen für Schrott jeglicher Art macht, zu Pfandhäusern, aus denen nie irgend jemand irgend etwas wieder auslösen wird. Grundsätzlich besteht das Problem der aktuellen Etappe des Verfalls bzw. der Entwicklung der Kunst darin, dass sie nicht sterben will und sich deshalb an das Neue klammert, ohne freilich das Alte loszulassen (zugegebenermaßen war dies immer so). Wenn man sich die großen Schauen zeitgenössischer Kunst anschaut, die Biennalen und Documentas, dann haben sich diese in Vergnügungsparks verwandelt, bei denen das Publikum vorbeischaut, um sich zu zerstreuen oder zu lachen, so wie in Spiegelkabinetten mit amüsanten Zerrspiegeln. Die Museen sind leer. Alle sind auf den Autosalons in Detroit oder verfolgen mit zurückgeworfenen Köpfen die Flugschau in Le Bourget oder begeistern sich für die neueste Technik auf der Cebit in Hannover. Die Kunst einzelner Kunsthandwerker ist für die Leute schon nicht mehr interessant. Sie begeistern sich für die Kunst der Menschheit. 

Die Menschheit möchte sich an der Kunst der Menschheit begeistern, an ihrer eigenen Kunst. Und man muss sagen, dass es tatsächlich viel gibt, was einen in Begeisterung versetzen kann. Das wunderschöne Concorde-Flugzeug, das neueste Modell von Toyota – das ist tatsächlich zeitgenössische Kunst. Das Design siegt. Diese Kunst kann schon nicht mehr von einem einzelnen Menschen geschaffen werden. Das ist die Kunst von Tausenden und Millionen. Diese Kunst ist schon auf dem Weg zur Kunst des Metamenschen. Wozu brauchen wir heute Performances in Museen und Kunstgalerien, wenn die Straße schon längst alles übernommen hat. Die Aktionen von Greenpeace oder Tausender streikender Arbeiter haben hinsichtlich ihres künstlerischen Niveaus und ihrer Aktualität schon längst alle Verrenkungen und Grimassenschneidereien in den Museen in den Schatten gestellt. Die Dichtkunst ist schon fast verschwunden und wird durch Reklameslogans ersetzt. Die Opern Bergs oder Schönbergs werden von niemandem besucht. Gepriesene Opernregisseure verkleiden Aida, Nadir oder Parzival ständig in Jeans. Und sie können sich nichts Besseres ausdenken. Hauptsache, das Publikum wird gehalten, um nicht ohne Arbeit zu bleiben. Das echte Theater hat sich schon längst in die Politik verzogen. Präsidenten und Premiers sind die wahren Vertreter des Showbusiness. 

Die Entstehung des Konzeptualismus als Kunstrichtung zeugt davon, dass man sich an Gedanken genauso ergötzen kann wie an Gefühlen. Die künstlerische Form befreit sich allmählich von ihrem sinnlichen Inhalt. Der Nullpunkt des Anthropomorphismus schließt das Vorhandensein von Gefühlen aus. 

Das Gefühl gehört der Kunst des Menschen, der Gedanke der Kunst des Metamenschen. 

An dieser Stelle ist anzumerken, dass Kunst bzw. Kunsthandwerk gerade in unserer Zeit aus der Anonymität getreten sind und ein Maximum an Individualität erreicht haben. Heute ist es für den einzelnen Menschen wichtiger, sein eigenes Label zu schaffen als die ihm auferlegte Arbeit zu erfüllen. Aber die Kunst des Metamenschen wird erneut anonym werden. Und mehr noch: Die Kunst, die erst den Zustand des Synkretismus verlassen und sich dann in Kunst und Wissenschaft geteilt hat, strebt heute erneut einer Verschmelzung entgegen. Alles wiederholt sich erneut… 

Oswald Spengler hat nirgendwohin gerufen. Er ist an der Weggabelung stehen geblieben. Er schaut zurück auf die vergangene Kultur, die ihm unendlich teuer ist wie uns allen, die in ihr groß geworden sind und in ihr leben. Und er bleibt in dem Gedanken gefangen, dass all dies die letzte Erleichterung und Tröstung des Todes ist. Aber der Tod tritt nicht ein. Spengler fürchtet den Blick nach vorn. Aber das Schicksal geht auch jenseits dessen weiter, was die Faustische Seele als einziges Leben ansah. Für unsere Generation ist dies schwierig zu akzeptieren. Aber es werden andere kommen, und nach ihnen wieder andere, und alles, was uns schockiert, wird völlig normal sein. 
Öffnen Sie die Augen und schauen Sie,  was mit der Kunst passiert! Sie schickt ein SOS nach dem anderen, aber wir wollen nicht hören. Wir stehen immer noch im Bann der blendenden Dekorationen, die die „Topkünstler“ mit solchem Enthusiasmus errichten. Wir nähern uns einer Zeit des Niedergangs aller menschlichen Werte. Die Kunst wird zu einem Spiel ohne Regeln, zu einer unernsten und letztlich auch unnötigen Sache. Und das war schon immer ein zuverlässiger Indikator für den Zusammenbruch der Ordnung und Zerfall  von Imperien.
Wenn man nun in seine Überlegungen auch die Wissenschaft einbezieht, lässt sich erkennen, dass diese sich immer in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit verändert hat, über die die Menschheit verfügte. Wissenschaft und Kunst haben sich immer parallel entwickelt. Für den Menschen, der sich mit einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern fortbewegte, gab es die Newtonsche Wissenschaft und Kunst, für den Menschen, der mehrere Tausend Stundenkilometer erreicht, die Einsteinsche. Und auch der Metamensch, der über ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit gebietet, wird seine eigene Wissenschaft und Kunst haben. 


10. Hoffen und Warten 


Würden wir versuchen, die Findigkeit des menschlichen Geistes anhand der Aussagen kluger Leute zu demonstrieren, erstünde vor uns ein riesiger, wahrhaft grandioser Flickenteppich, dessen einzelne Flicken in allen verschiedenen Farben von Schwarz bis Weiß variierten. Und dieses Werk würde uns ohne Zweifel in Begeisterung versetzen. Viele dieser Philosophen und Weisen haben versucht, ihren Lehren entsprechend zu leben, andere haben das eine gepredigt und das andere gemacht. Würden wir aber versuchen, ihre Antworten auf die Fragen „Wozu das alles?“, „Wie soll man leben? Was machen?“ auf einen Nenner zu bringen, würden wir seltsamerweise eine Antwort erhalten, die jeder kennt: Hoffen und Warten. Und das ist die Antwort für jeden, der sich auf dem Weg des menschlichen Verstandes fortbewegt: Warten, bis aus der Kammer etwas Neues gebracht und vor den Blinzelnden an die Wand gehängt wird. 


Igor Ganikowskij, Odenthal, 2009
Übersetzung: Lars Nehrhoff
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