Ganikowskij Igor
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Köln

Art-Cologne gallerie Pudelko Bonn, 2004



Moralische Räume 2  
Igor Ganikowskij



 „Es war nie so, dass ich nicht existierte, oder du oder alle diese Könige. Und es wird niemals so sein, dass irgendwer von uns seine Existenz endet.“ (Bhagavad Gita 2.12)

„Es gibt in der künftigen Welt keinen Platz für die, die nicht jeden Tag das Finstere in Licht verwandeln, die nicht die Bitternis des Süßen fühlen.“ (Zogar, Prolog)

“… Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Matthäus 12,30)

"So wie unser Verstand, sobald er einmal zufällig die Perspektiven von Raum und Zeit entdeckt hat, diese nicht mehr loswerden kann, können auch unsere Lippen den einmal gekosteten Geschmack des universellen und stabilen Fortschritts nicht vergessen." (Teilhard de Chardin „Le Phénomène Humain“ 2 B.).

Auch die Antike starb, aber sie wusste nichts davon. Sie glaubte an ein ewiges Sein. Sie hat noch ihre letzten Tage mit rückhaltlosem Glück, jeden für sich, als Geschenk der Götter durchlebt. Wir kennen unsere Geschichte. [...]

Unsere Gabe ist die Gabe, unser unausweichliches Schicksal vorherzusehen. Wir werden bewusst sterben, und jedes Stadium unseres Verfalls mit dem scharfen Blick des erfahrenen Arztes begleiten." (Oswald Spengler: "Der Untergang des Abendlands".6)

1. Wenn plötzlich mitgeteilt würde...

Nehmen wir einmal an, im Fernsehen würde plötzlich verkündet, dass Gott existiere... Angesehene Wissenschaftler hätten dies zweifelsfrei nachgewiesen und unwiderlegbare Details von Experimenten angeführt. Was würde sich ändern? Ich denke, nicht viel. All jene, die schon immer geglaubt haben, würden dies auch weiterhin tun. Und die Atheisten würden diese Nachricht als neue wissenschaftliche Tatsache aufnehmen.

Vielleicht liegt dies daran, dass Gott (bzw. das Prinzip der Vernunft) in unserer Welt derart verborgen agiert, dass es den Leuten gar nicht in den Sinn kommt zu fragen, warum sie eigentlich leben und worin die Aufgabe des Menschen besteht bzw. ob es eine solche überhaupt gibt.

Natürlich lassen sich Antworten geben: Man muss das Leben lieben und nicht dessen Sinn; man muss die Einheit der gesamten Menschheit anstreben; die Wege des Herrn sind unergründlich; man muss Buddha werden; die Ahnen auferwecken oder den Tod besiegen; man muss Kinder aufziehen; Karriere machen; sich selbst erkennen; man muss eins werden mit Gott; den Punkt Omega erreichen oder einfach nur leben... Es ist zu sagen, dass alles Aufgezählte zutreffend ist.

Zitate aus der Bibel zu dieser Frage: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer...“ (1,28) oder „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (2,15).

Im Grunde genommen ist es schon verwunderlich, dass sich der Mensch für alles Mögliche interessiert - für Arbeit, Erfolg, Privatleben, Geschäft - aber keinerlei Eile zeigt, eine Antwort auf diese globale Frage zu finden. Als ob das Private wesentlich bedeutsamer als das Allgemeine sei. Noch darüber hinaus, stellen alle Religionen an die Stelle einer Antwort auf diese wichtige Frage eine Unzahl von Instruktionen, wie man zu leben habe. Eines aber bleibt völlig unverständlich: Man lehrt dich, was zu tun nötig ist, aber gleichzeitig sagt dir niemand warum und weshalb.[1] Das erinnert an das Leben eines zu lebenslänglicher Fließbandarbeit verurteilten Menschen, der weiß, dass er ein paar Schrauben anziehen muss, aber nicht weiß - und auch gar nicht wissen will - was für ein Objekt er da eigentlich zusammenmontiert.

2. Gefangene des dreidimensionalen Raums

Unsere Welt wurde derart erschaffen, dass wir im dreidimensionalen Raum gefangen sind. Natürlich können wir uns in der Theorie sowohl über vier- oder sechsdimensionale Welten als auch über eine eindimensionale Welt Gedanken machen, aber uns diese mit Hilfe unserer Sinne vorzustellen,[2] sind wir ebensowenig in der Lage wie in diesen zu leben. So sind wir konstruiert. Tatsächlich sind alle diese Welten höher oder niederer als unser Verstand und lassen sich nur in Gedanken zu einem Ganzen zusammenziehen. Zugleich ist aber logisch anzunehmen, dass über und unter unserer Welt andere Welten existieren. Man kann sich die Große Welt als Räume vorstellen, die sich nach bestimmten Gesetzen vereinen bzw. trennen und über ein jeweils eigenes "Vernunftsniveau" verfügen.[3]

3. Ziel der Vernunft

Die praktische Tätigkeit eines vernunftbegabten Wesens ist, sofern dieses über begrenzte Ressourcen verfügt, immer darauf ausgerichtet, seine Umwelt zu vervollkommnen und umzuformen, sich an diese anzupassen und sie zugleich den eigenen Bedürfnissen zu unterwerfen. Für den Menschen ist die Befreiung von physischen und seelischen Leiden, der Sieg über den Tod ebendas, was ihn zu denken und schaffen zwingt. Physische Leiden bzw. Unannehmlichkeiten treiben ihn auf den Weg des technischen Fortschritts, seelische Leiden drängen ihn zur Erhaltung der Art.

Wenn man sich den Weg unserer Welt als Kreislinie vorstellt, an deren höchstem Punkt ihre Entstehung stattgefunden hat (der große Knall, den die Wissenschaft heute annimmt[4]) und dann einen anderen, etwas weiter rechts gelegenen Punkt auf dieser Krieslinie nimmt, dann wird klar, dass man sich zum Punkt der Singularität, zum Punkt der Entstehung, zu dem Punkt, an dem die gesamte potentielle Information über unsere Welt enthalten ist, auf zwei entgegengesetzen Wegen bewegen kann - mit und gegen den Uhrzeigersinn.

Wenn nun aber die Menschheit verstehen kann, was im Punkt der Singularität eigentlich vorgegangen ist, dann kann sie den ganzen Lauf der Dinge neu reproduzieren und wird zum realen Herren der Welt, in der sie existiert.

Die Bewegung gegen den Uhrzeigersinn wird in unterschiedlichem Maße durch die verschiedenen Religionen repräsentiert. Es handelt sich um den Weg des Glaubens. Die ideale und radikalste Variante dieses Wegs ist der Weg des Buddhismus (nennen wir ihn der Einfachheit halber den östlichen Weg). Es handelt sich dabei um eine Absage an die dem Menschen auferlegte Welt, um den mentalen Übertritt in eine Welt ohne Divergenzen und Leiden, ohne Ursachen und Folgen, um die Verschmelzung mit bzw. die Auflösung in einer höheren Welt und somit die individuelle Rettung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara).

Der Osten hat verstanden bzw. das Wissen um die Tatsache empfangen, dass alle Probleme des Menschen in diesem selbst und nicht in seiner Umwelt angesiedelt sind, die er als Trugbild ansieht.

Im Gegensatz dazu steht die Bewegung mit dem Uhrzeigersinn – die von der westlichen Welt[5] gewählte Variante der Rettung. Es handelt sich dabei um den Weg der Erkenntnis (nennen wir ihn den Weg der westlichen Zivilisation). Dieser Weg wird durch das Judentum als anderem religiösen Extrempol[6] und durch dieses auch durch das Christentum, den Islam sowie den Atheismus repräsentiert und vertritt heute die Mehrheit der Menschheit.

Er weist einen Weg innerhalb der Welt der Divergenzen, Gegensätze und Kausalbeziehungen, innerhalb der Welt von Gut und Böse. 

Dieser Weg ist lang, denn man muss die gesamte Kreislinie durchlaufen, um von der anderen Seite zum Punkt der Entstehung zu gelangen. Und wenn dies tatsächlich der dem Menschen vorherbestimmte Weg ist, dann kann der Mensch erst, wenn er diesen Punkt erreicht hat und bereits über alles Wissen dieser Welt verfügt, die Welt und sich in ihr besiegen. Und von diesem Moment an gewinnt die Menschheit eine andere Qualität, einen anderen Raum, eine andere Zeit, eine andere Erde.

Offensichtlich ist eben dieser zweite Weg, der mit materiellem Fortschritt einhergehende Weg der Zivilisation, der peinvollste und blutigste Weg, für die Menschheit vorherbestimmt.

Natürlich kann man sagen, dass Judentum, Christentum und Islam ebenso wie der Buddhismus… Wege lehren, Rettung auf kürzeren und schmerzfreieren Wegen zu erlangen. Natürlich wäre dies so, wenn der Mensch diese Lehren mit seinem ganzen Herzen annähme und sein Glaube absolut wäre.

Aber die Schwierigkeit und Tragik besteht darin, dass der Mensch gezwungen wird, mit dem zu kämpfen, was tief in ihm drin ist, als ob er sich an den eigenen Haaren herausziehen müsse.

Dieses Wunder aber gelingt nur einigen wenigen, absolut Glaubenden. Für die Mehrheit behält das Menschliche die Oberhand.

Dass sich der von den Religionen gewiesene Weg als nicht erfolgreich erweist (er wird nur von einzelnen realisiert), hat zahlreiche Gründe, insbesondere aber die Verzerrungen, die sich durch die Anpassung der dem Menschen überlieferten Offenbarungen an die weltlichen Bedürfnisse ergeben.

Es bleibt also nur die andere Variante: die Bewegung auf dem Weg der Zivilisation, die Umarbeitung der gesamten Welt, einzig und allein mit dem Ziel, sich schließlich selbst zu verändern (was auch die unterschiedlichen Konfessionen anbieten) und dadurch die Leiden und den Tod selbst zu besiegen.

Und die höchste Vernunft bzw. Gott drängt den Menschen just auf diesen Weg.

 Hier ist es wichtig, daran zu denken, dass alle Religionen von einer individuellen Rettung sprechen. Aber der Weg der Zivilisation kann Anspruch auf die Rettung aller erheben, was einen der Gründe dafür darstellt, dass er gewählt wurde.

4. Der westliche Weg

Bei der Betrachtung komplizierter Prozesse ist  die Wahl des Koordinatensystems, die Ausrichtung des Blicks von herausragender Bedeutung. Ich möchte mich auf lediglich zwei Parameter beschränken – Einheit und Unterschiede. Diese sind von solcher Wichtigkeit, dass sie den Aufbau großer Systeme erlauben, ohne sich in Details zu verlieren. In einer Welt der Einheit[7], wie im Buddhismus, ist alles einfach und genial. Es gibt keinen direkten Kontakt mit der Welt und keine Leiden. In der Welt der Divergenzen ist alles komplizierter. Im folgenden werden wir eben diesen Weg betrachten.

Unsere Welt ist nach bestimmten Gesetzen geschaffen, die eins nach dem anderen von der Menschheit offengelegt werden. Diese Gesetze sind ständig anwesend; das spricht für das Vorhandensein von Vernunft in der Welt.

Unsere Welt wurde (nach dem westlichen Szenario) von der Höheren Vernunft bzw. Gott von Anfang an als Welt der Divergenzen und Kausalbeziehungen geschaffen (d.h. dass die Zeit in unserer Welt nur in eine Richtung fließen kann). Eine Bestätigung hierfür finden wir im ersten Buch der Bibel, wo Gott Licht und Finsternis, Land und Wasser, Tag und Nacht teilt... Hier werden die Einteilungen auf physischer Ebene beschrieben. Gleiches geschieht auch auf der Stufe des Menschen durch die Schaffung von Mann und Frau.

Es folgt die Geschichte vom Garten Eden bzw. dem Paradies, in der scheinbar von einer Wahl die Rede ist, mit der der Mensch nicht zurechtkommt. Erinnern wir uns an die Bibel: „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“ (2, 8-9). „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du von ihm issest, musst du des Todes sterben.“ (2, 15-17)

An dieser Stelle ist auf die oft übersehene Tatsache hinzuweisen, dass dem Menschen keineswegs verboten war, vom Baum des Lebens zu essen. Und auch der Grund dafür ist klar, denn er verfügte im Garten Eden ohnehin über Unsterblichkeit. In der Welt der Einheit gibt es keinen Tod. Es war ihm verboten, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, da dieses Wissen faktisch das Wissen um die geteilte Welt ist. Kaum aber hatte er dieses Wissen in sich aufgenommen (buchstäblich gegessen), wurde er aus dem Paradies – also der Welt ohne Divergenzen - in eine Welt vertrieben, in der Schwarz und Weiß existieren. Denn es sind ja gerade die Unterschiede[8], die Vergleichsmöglichkeiten, die den Menschen zwingen zu agieren. Gibt es keine Vergleiche, gibt es auch keine Wünsche, und entsprechend (wie bei den Buddhisten) auch kein Agieren. Es ist  das Resultat einer großen Summe praktizierter Egoismen, das die Welt in Bewegung hält.

Andererseits aber ist die Menschheit schon längst zu der Erkenntnis gelangt, dass gerade die Polarität den Menschen leiden lässt. Es ergibt sich also der folgende Widerspruch: Einerseits brauchen wir, um in unserer Welt zu leben, die Unterschiede, aber andererseits vergiften just diese Unterschiede unser Leben.

In der Geschichte Kains wird die Einteilung bzw. Verurteilung bereits auf der Erde endgültig Gesetz. Nach der Geburt der ersten Menschen, Kain und Abel, vollzieht sich ein Ereignis, das wie eine Sprungfeder das gesamte menschliche Leben (die Geschichte nach dem westlichen Weg) aufzieht. Gott nimmt die Gaben Abels an, und weist die Gaben Kains zurück. Und nach der Ermordung Abels tötet Gott Kain nicht, sondern handelt anders: „Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“. (4,15) Das heißt, dass Gott selbst erneut eine Einteilung einführt. Der Mensch wird bereits endgültig aus der Welt der Einheit (Eden) in eine Welt der Polaritäten versetzt bzw. versetzt sich selbst dorthin. Noch darüber hinaus verfestigen sich die Einteilungen und Polaritäten in der irdischen Welt und bilden die ihr eigenen ontologischen Elemente. Polaritäten bzw. Unterschiede werden zu jenen Triebfedern (Egoismus, Individualisierung, Ehrgeiz, Neid, Gier nach dem Besitz des anderen), durch die unsere Welt aufsteigt, die der Welt ihre Dynamik geben, den Wunsch zur Bewegung antreiben, die aber auf der anderen Seite schon seit Tausenden Jahren der Menschheit keine Ruhe geben und sie immer weiteranstacheln.

 Offensichtlich ist das Denken, dessen Fundament auf der Polarität der Welt und strengen Kausalbeziehungen fußende Modelle sind, nicht mit den im Vergleich zu uns höheren Welten vereinbar. 

Zusammen mit dieser Welt hat der Mensch auch bekommen, was in diesem „Paket“ enthalten ist und ohne das diese Welt nicht existieren kann: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ (3, 16,17) Vor allem aber erhielt er den Tod.

Es gibt also möglicherweise prinzipiell zwei Wege (und eine unendliche Zahl andere, in der Mitte zwischen diesen beiden liegende Wege), um die Ambitionen unserer Vernunft zu erfüllen und uns von Tod und Leiden zu erlösen: den östlichen und den westlichen Weg. Der erste Weg ist mit einer Änderung des Ichs verbunden, mit einer Neuprogrammierung des eigenen Bewusstseins. Der zweite Weg führt zu den gleichen Zielen, aber dafür muss zugleich auch die ganze Welt geändert werden. Ohne Einteilung in Schwarz und Weiß ist dieser Weg, der Weg der zivilisatorischen Entwicklung schlicht unmöglich. Davon handeln die Geschichte Kains und alle anderen biblischen Geschichten – Geschichten über das Leben in der Welt der Polaritäten.

Wahrscheinlich lässt sich sagen, dass die Unterschiede im Denken auch unterschiedliche Welten hervorbringen. Wenn wir die Welt in den Koordinaten der Polarität denken, erhalten wir unsere allen bekannte Welt mit Leiden und Tod. In der Welt der Einheit hat es keinen Sinn, an den Tod zu denken. Dort stirbt niemand, sondern er ändert nur seine Erscheinung. Eines geht ins andere über. 

5. Mensch und Menschheit

Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass in dem vorgeschlagenen Modell die Welt der Divergenzen und die Welt der Gemeinsamkeiten zwei absolut unterschiedliche Projekte darstellen.

In der Welt der Divergenzen, also in unserer Welt[9], entspricht jeder Eigenschaft eine ihr entgegengesetzte Eigenschaft. Jede dieser Eigenschaften ist für die Welt nötig, die andernfalls schlicht nicht existieren würde.

Man kann dazu auf Hegels Denkansatz von These und Antithese mit anschließender Snythese verweisen.Am Anfang stehen aber nichtsdestotrotz gerade die Unterschiede. Eben dieses Schema liegt allen unseren logischen Modellen zugrunde.

Mit zunehmender Unikalität vergrößert die Menschheit als Spezies ihre Flexibilität und Überlebensfähigkeit. Gerade Unikalität und Unterscheidung von anderen beschleunigen den „Fortschritt“, der nur durch die Entfachung immer neuer Wünsche, Verführungen, Konkurrenz angetrieben wird. Was ist eine Verführung anderes als der Motor dieser Welt, die Möglichkeit zu bekommen, was man nicht hat.

Andererseits aber nehmen Divergenz und Entfremdung zu, das Verbindende schwindet.

Wenn man sich die vergleichsweise lange Geschichte der Menschheit und gleichzeitig die immer größere Zahl der Menschen vorstellt, muss das Anwachsen der Unikalität zum Zerfall der gesamten menschlichen Gemeinschaft führen. Dabei nimmt mit der Zeit das Trennende zwischen den Leuten immer mehr zu. Wieviel Gemeinsamkeiten lassen sich z.B. zwischen einem amerikanischen Computerfachmann und einem armen Einwohner Afrikas finden. Noch darüber hinaus wächst auch das Trennende zwischen den Generationen. Die älteren Generationen kommen schon nicht mehr mit der jungen Generation mit. Der ewige Generationenkonflikt wird sich noch weiter vertiefen.[10] Und das einzige, was diese Aufspaltung für den westlichen Weg stoppen kann, ist der Tod.

Andererseits ließe sich der Mensch technisch wahrscheinlich schon deshalb nicht unsterblich machen, weil sich kaum vorstellen lässt, wie sein Kopf aussehen müsste, um die ganze in Dutzend Millionen Jahren erhaltene Information zu enthalten. Sein Arbeitsspeicher müsste eine unvorstellbare Größe haben. Die Informationsweitergabe wurde nach dem Konstruktionsprinzip sich abtrennender Stufen heutiger Langstreckenraketen konstruiert. Der Tod spielt dabei die Rolle eines Übergangs zwischen den Stufen, indem er immer neue, frische Generationen ins Leben bringt, ohne dabei das Äußere des Menschen zu ändern. Der Mensch wurde folglich so projektiert, dass sein ewig mit sich geführter „Computer“ für die Ausführung seiner Mission ausreichend sein müsste.

Erstaunlicherweise ist es gerade der Tod, der die Menschheit zusammenhält und sie zwingt, ihre Umwelt in einem bestimmten Tempo umzugestalten. Individuelle Unsterblichkeit hätte zur Folge, dass die Menschheit als Art aussterben würde, bevor sie die gesamte ihr vorbestimmte Arbeit vollbracht hätte. Die Welt der Divergenzen ist an den sterblichen Menschen angepasst bzw. der sterbliche Mensch ist der Welt der Divergenzen eigen.

Es läuft also darauf hinaus, dass unsere Welt ohne den Tod nicht funktionieren kann. Rufen wir uns die Worte Gottes in Erinnerung: «Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du von ihm issest, musst du des Todes sterben.“ Anders gesagt ist der Tod Teil des „Pakets“ unserer Welt.

Ich denke, dass die folgende Schlussfolgerung richtig ist: Auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Menschen ist der individuelle Tod unerlässlich. Unerlässlich deshalb, weil er den Tod der gesamten Menschheit als Art verhindert.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Kreis? Wie lassen sich Ängste, Krankheiten, Leiden, Tod besiegen, wenn all dies für das Überleben der Menschheit notwendig ist?

Es gibt einen Ausweg, und zwar nur diesen einen – eine Vergrößerung der Einheit. 

Schon mehrfach wurde in diesem Text die Formulierung „auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Menschen“ gebraucht. Was ist damit gemeint? Die Sache ist die, dass die Menschheit vor etwa 300 Jahren den Weg einer intensiven Entwicklung eingeschlagen hat.[11] Was in dieser Zeit entdeckt und für die Veränderung des Lebens getan wurde, ist um ein Vielfaches größer als das, was in den vorangegangenen Millionen Jahren gemacht wurde. Und das Tempo wird noch deutlich zunehmen, da sich die künstliche Evolution als deutlich effektiver erweist als die natürliche, biologische. Die Entwicklung verläuft exponentiell. Die Menschheit ist an eine sehr wichtige Grenze getreten. Sie ist in den Kosmos gelangt, beginnt sich zu dublieren und sich äußerlich und innerlich umzuformen. Sie steht an der Schwelle zur Schaffung künstlicher Zellen, eines künstlichen Intellekts, von Superrobotern, modelliert Leben...

Das heißt, dass sich der Mensch bereits an den Punkt der Singularität annähert. Er ist schon in Sichtweite. Und auch dies verleiht der Entwicklung ein nie dagewesenes Tempo.[12] Heutzutage scheint die Idee, dass der Mensch seinesgleichen reproduzieren und sogar sich selbst verändern kann, nicht mehr als Utopie.[13] Der Mensch verändert sich bereits künstlich, implantiert Knochen und innere Organe. Im Hirn werden Chips eingepflanzt, die für Sehen und Hören verantwortlich sind. Der Mensch kann Computer allein durch seine Gedanken steuern. die unsere Welt vollkommen auf den Kopf stellen. Und wahrscheinlich wird sich dies alles in den kommenden 200 bis 300 Jahren vollziehen. Und dabei bin ich weniger optimistisch als die Amerikaner in Silicon Valley.[14]

6. Der sehnlichste Wunsch- Einigkeit.

Dem hier Betrachteten liegt der Faktor der Einheit zugrunde. Und ich möchte behaupten, dass sich die Ziele der Menschheit wie der Sieg über die Leiden und die Überwindung des Todes ohne eine allgemeine Vereinigung nicht realisieren lassen. Wenn wir den Faktor Einheit in seiner historischen Entwicklung betrachten, stellen wir fest, dass die Einheit seit dem Anfang der Zeiten, beginnend mit Adam, ständig kleiner geworden ist. Die Unterschiede sind gewachsen. Tatsächlich war am Anfang Adam, dann Adam und Eva, dann deren Kinder und Kindeskinder... Nach den Gesetzen der Biologie, die nicht von uns gemacht wurden, entstehen Leute, die sich nicht ähnlich sind. Die Unterschiede werden größer. Es entstehen ganze Zweige der Menschheit, deren Wege nebeneinanderherlaufen oder sich kreuzen und sich dann in verschiedene Richtungen entwickeln, die im Kreis laufen oder sich in Spiralen winden. Es bilden sich Gemeinschaften, Staaten, riesige Imperien. Dann bricht alles auseinander und wird in anderer Form wiederaufgebaut. Wie bei einem Kaleidoskop sieht man immer ein anderes Bild. Aber bei all dem herrschte bis in die letzte Zeit eine Tendenz zur Zunahme der Unterschiede vor, weil dies notwendig war. Ebendies verlieh der Welt Dynamik und beschleunigte sie. Diese Strategie entspricht der Evolutionstheorie, der Expansion des lebenden Organismus.

Aber es scheint, dass sich diese Tendenz buchstäblich vor unseren Augen in ihr Gegenteil kehrt. Und es sieht so aus, als habe diese Wende just zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt, des Jahrhunderts der sozialen Revolutionen, des Terrors, des Zweiten Weltkriegs, des blutigsten Abschlachtens des Menschen durch den Menschen. D.h. dass die Kurve der Einheit, beginnend mit Adam Millionen Jahre nach unten lief.[15] Die Vielfalt nahm zu. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kann sie – vielleicht in 300 Jahren - erneut das Niveau des ersten Menschen erreichen. Wir leben in einer Phase des Umbruchs und machen uns zu wenig bewusst, dass die ganze Lebensstrategie in ihr Gegenteil gekehrt werden kann. Während früher das Individuelle, Unikale geschätzt wurde, kommt heute das Gesellschaftliche, Kollektive. Welche Faktoren sprechen bereits jetzt für diese These? Was lässt sich bereits heute sehen? Es gibt viele Faktoren, und sie sind offensichtlich.

Die Grenzen der Staaten haben sich etabliert, stabilisiert. Wenn wir jetzt durch das Kaleidoskop gucken, sehen wir im wesentlichen ein Bild. Noch darüber hinaus hat eine Vereinigung begonnen, für die das vereinigte Europa das beste Beispiel darstellt. Dabei hat sich diese Vereinigung nach anderen Prinzipien vollzogen als früher, nicht unter dem Stiefel eines Monarchen, Zaren oder Diktators. Es wurden Mechanismen eingeführt, die gewaltsame Machtteilungen oder –ergreifungen blockieren, internationale Organisationen [16]gegründet wie z.B. die Uno, Friedensmissionen, Interpol, das Internationale Kriegsverbrechertribunal, Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen... Globalisierung und allgemeine Standardisierung gewinnen an Tempo. Die forcierte Entwicklung der modernen Transport- und Kommunikationswege, vor allem des Internets – all dies verbindet die Menschen eher als dass es sie trennt, wobei es sehr wichtig ist, dass die Ähnlichkeiten auch auf mentaler Ebene stärker werden. Selbst die Kirchen, die zu den konservativsten Institutionen des Menschen gehören, fangen an, sich einander zu nähern (gemeinsame Gottesdienste).[17]

Vielen Leuten gefällt dies nicht, und man kann sie verstehen. Sie wollen nicht ihr Gesicht, nicht ihre Individualität verlieren. Aber das Programm arbeitet, und man muss sich ihm unterwerfen.

7. Vereinigung und Vermischung

Versuchen wir, uns genauer anzuschauen, was heute die allgemeine Bewegung zur Vereinigung fördert.

Auf der Hand liegt eine höhere Lebenserwartung in den entwickelten Ländern, bei gleichzeitig sinkender Geburtenrate. Natürlich wird sich diese Entwicklung fortsetzen und auch auf andere Länder übergreifen. Die Alten werden länger leben und es wird mehr von ihnen geben. Der Anteil der Älteren an der Gesellschaft steigt, und damit verbunden ist eine höhere Stabilität und Toleranz der Gesellschaft. Ältere Leute sind weniger aggressiv. Sie haben in ihrem Leben schon viel gesehen und neigen in geringerem Maße zu Konflikten. Vielleicht werden die Leute schon bald mit 100 Jahren in Rente gehen (in Europa nähern wir uns schon einem Rentenalter von 70 Jahren). Dies führt dazu, Einwohner aus rückständigen Regionen in die ökonomisch entwickelten Länder einzuladen. Die intensive Vermischung der Bevölkerung wird noch weiter zunehmen. Allgemein werden heutzutage in diesen Prozess der totalen Homogenisierung der Gesellschaft nicht nur Rassen, Nationalitäten und Religionen einbezogen, sondern auch Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung, die gesamte Menschheit. Wir sehen, dass Vereinigung und Vermischung zu den wichtigsten Prozessen unseres Lebens werden. Es gab sie natürlich immer (Amerika, Russland, allgemein in allen großen Imperien), aber erst jetzt nehmen sie globale Züge an und beschleunigen sich. Hierzu trägt auch die Etablierung der liberalen Demokratie in den ökonomisch führenden Ländern bei, die diesen Prozess postuliert und fördert.

Allgemein haben unterschiedliche Faktoren eine unterschiedliche Dynamik in der Zeit.

Die Tendenz zur Steigerung der Lebenserwartung z.B. lässt sich als allgemein verzögerte Vorwärtsbewegung interpretieren, d.h. die Menschheit hat eine solche Geschwindigkeit und eine solche Stufen des Trennenden erreicht, dass sie offensichtlich aus Trägheit ihr Ziel erreichen kann. Andererseits braucht die Menschheit heute tatsächlich eine große Stabilität. Wir sind an eine Grenze gelangt, wo eine einzige falsche Entscheidung alle in eine Katastrophe reißen kann. Die Zeiten sind vorbei, wo 20-30-jährige Generäle sich mit Säbeln schlagen und Kriege führen, Territorien nach ihrem Geschmack umgestalten konnten. Damals war dem Menschen mehr Freiheit gegeben, heute weniger.

8. Einheit innerhalb der Unterschiede

Tatsächlich befindet sich Einheit immer innerhalb der Unterschiede und bildet deren Gerüst[18]: In den Beziehungen zwischen den Menschen gibt es nur drei schablonenhafte Verhaltensmuster: Wohlgesonnenheit, Feindschaft und Neutralität. Gleichzeitig aber gibt es Millionen Nuancen. Nehmen wir die Mode. In der gesamten Zeit seiner Existenz hat der Mensch Millionen von Kleidungsvarianten geschaffen, aber im großen und ganzen liegen der Kleidung immer Mütze, Schal, Kleid, Hose, Strümpfe, Schuhe und Gürtel zugrunde, die sich kombinieren lassen. Sieben Grundelemente, und Hunderte von Millionen mögliche Kombinationen. Und so ist es in allen Bereichen.

Diese riesige Vielfalt an Varianten schafft die Illusion von Kompliziertheit und Unerschöpflichkeit des Lebens, obwohl dem oft völlig einfache Kategorien zugrundeliegen. Bei der Tendenz zur Vereinigung fällt deshalb die ganze „Kompliziertheit“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie wird eigentlich nicht gebraucht und ist nur als Illusion nötig.

In der Welt der Unterschiede wird nur das Neue geschätzt, das Individuelle. Aber prinzipiell Neues ist nicht unendlich verfügbar. Ein einfaches Telefon und ein mit Brillanten besetztes, hundertausendmal teureres Telefon bleiben beide ein Telefon. Und dass das zweite existiert, zeugt nur von einer tiefen Krise der Welt der Angst und des Konsums, von dessen Dekadenz und Verfall. Diese Welt hat den Höhepunkt der Unterschiede in unserer Zeit erreicht und wird wohl zügig zerstört werden.

Natürlich hat die liberale Demokratie wie jede andere Gesellschaftsform der Welt viel gegeben, aber längst nicht alles, was sich der Mensch von ihr erhofft hat. Warme Toiletten reichen nicht aus. Gebraucht wird richtiges Glück ohne Schmerz, Leiden und Tod. Der Mensch ist reicher, aber nicht glücklicher geworden.

Wir reden hier von Prozessen, die bereits heute begonnen haben und in Zukunft nur anwachsen werden wie eine Lawine, die unser Leben äußerlich und innerlich verändert. Auch wenn man heute fast sicher sein kann, dass hinter 90% aller Ereignisse in der Welt des Menschen nur Geld als Hauptäquivalent des Lebens steht, (natürlich verdeckt und hinter Masken verborgen), ist doch das Streben nach Vereinigung für die Menschheit die Hauptsache.

 Es ist eine Zeit angebrochen, in der sich intensiv eine Sphäre herausbildet, in der sich die Idee der Einheit realisiert. Es wird zur politischen, ökonomischen, kulturellen und sprachlichen Vereinigung kommen, staatsübergreifende Parteien werden gegründet werden (was teilweise in Europa schon Realität ist), eine allgemeine Kirche wird entstehen, staatsübergreifende und von der gesamten Menschheit getragene Initiativen sind auf dem Vormarsch...

9. Metamensch. Moralischer Raum.

Während das vom Menschen geschaffene künstliche Leben früher über Jahrtausende hinweg keinerlei Einfluss auf das innere Leben des Menschen selbst hatte, ist heute eine Zeit der völligen Umgestaltung der menschlichen Persönlichkeit und seiner jahrhundertealten Lebensgewohnheiten angebrochen. Einerseits entreißt der Mensch Gott bzw. der höheren Vernunft eine Position nach der anderen, indem er die ihm von diesem gegebenen Mechanismen nutzt. Das hat er natürlich schon immer getan, aber heutzutage geht es dabei um Kategorien, die das Menschliche an sich enthalten.

Andererseits wird der Mensch Gott immer ähnlicher, indem er sich dessen Attribute aneignet. Es lassen sich also zwei Prozesse beobachten, die allerdings im Kern auf das Gleiche hinauslaufen: Die Zerstörung des Menschlichen und die Annäherung an das Göttliche.

Schon heute braucht eine Frau keinen Mann, um ein Kind auf die Welt zu bringen.[19] Sie kann ohne Schmerzen gebären und ist vollkommen frei von männlicher Vormundschaft. Aber erinnern wir uns an die Worte Gottes: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. 

Und all dies ist nur der Anfang. Der neue Mensch oder besser: der Metamensch[20] wird weder Frau noch Mann brauchen, um sich zu reproduzieren. Dadurch fällt noch ein globaler Punkt weg, nach dem die Teilung der Menschheit verlief. Und das ist bereits Realität und keine Phantasie.

In der Bibel sagt Gott zu Adam: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ (3,17) Schauen wir, was passieren wird, wenn der Mensch sich von dieser Verwünschung befreien kann. Das ist im Prinzip die nächste Perspektive, ohne die nichts weiter passieren kann. Zuerst erhält der Mensch, wie uns Wissenschaftler versprechen, Zugang zu niemals versiegender Energie, dann im Überfluß, was wiederum ein Zeitalter der materiellen Gleichheit aller Menschen einläuten wird, den ersten großen Akt der Gleichmachung aller. Natürlich kann sich der Mensch, da er nie in einer Gesellschaft des Überflusses gelebt hat, nicht wirklich vorstellen, was Überfluss für alle eigentlich ist. Das wird keine Gesellschaft sein, in der alle in einheitlichen Feldröcken marschieren und Andersdenkende mit Hacken erschlagen, sondern eine Gesellschaft, in der jeder haben kann, was auch jeder beliebige Andere hat.

Dann werden sich die Menschen an die Idee des Kommunismus erinnern. Der Mensch hat schon oft versucht, alle gleich zu machen, aber bis zum heutigen Tag hat sich dies als unmöglich erwiesen. Selbst das größte Experiment, der Sozialismus, ist gescheitert. Und er ist keineswegs deshalb gescheitert, weil irgendetwas falschgemacht wurde (was natürlich auch der Fall war), sondern deshalb, weil die Zeit für diese Idee noch nicht reif war.[21] Weil Gleichheit auf der gegebenen Entwicklungsstufe der Menschheit prinzipiell ausgeschlossen war. Der Kommunismus konnte zu seiner Zeit gar nicht verwirklicht werden und war nichts anderes als ein Projekt unverantwortlicher Hasardeure. Alles wurde durcheinandergebracht, auf den Kopf gestellt. Die Leute wurden gezwungen, eine auf Gleichheit beruhende Gesellschaft in einem Land zu errichten, in dem völlige Armut und völlige innere und äußere Ungleichheit herrschte, während man eigentlich das völlige Gegenteil hätte machen müssen: allgemeinen Überfluss erlangen, Und erst anschließend hätte man mit dem Aufbau des Kommunismus beginnen können.

Tatsächlich muss man ein Mensch sein, um die göttliche Idee der Gleichheit in solcher Art zu pervertieren. Denn Einheit ist eines Seiner grundlegenden Attribute.

„Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm. Wo bist du?“ (3,9)

Wovon ist hier die Rede, vielleicht von der Funktion einer Kontrolle? Schauen wir, was heute in diesem Bereich passiert. Natürlich nimmt mit dem technologischen Fortschritt auch die Beobachtung des Menschen über den Menschen zu. Wir sind von Videokameras umgeben, deren Zahl immer größer wird. In unsere neuen Pässe sind Angaben über unsere besonderen Kennzeichen (Fingerabdrücke, Netzhautparameter) eingelesen. In einigen Ländern werden Chips schon unter die Haut gepflanzt. Im Computer sind unzählige Daten über uns gespeichert, die nicht nur mit unserem Äußeren zu tun haben, sondern über Geschmack, Leidenschaften, Bekannte, Lieblingsgeschäfte, Lieblingskleidung, Hobbys usw. Auskunft geben. Zu ergänzen sind noch die Durchsicht von Briefen und E-Mails, das Abhören von Telefonen. Ganze Industriezweige arbeiten an der Perfektionierung des Ausspionierens.

 Heute wird die Verschärfung der Kontrolle durch den Kampf gegen den Terrorismus legitimiert, morgen durch etwas anderes. Natürlich wirkt das zuweilen lächerlich: schließlich werden Terroristen kaum Kommunikationsmittel nutzen, von denen jeder weiß, dass sie kontrolliert werden. Erschwert wird die Sache noch dadurch, dass Terroristen nicht nur Menschen anderer Nationalität sein können, sondern auch die eigenen, unter schlechten Einfluss geratenen Landsleute. Wenn man logisch in diese Richtung weiterdenkt, lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass das beste Kontrollinstrument sein wird, die Gedanken des einzelnen Menschen zu kontrollieren. Und das ist keine ferne Zukunft. Neue Technologien werden auch dahin führen.

 Das Entscheidende in diesem Zusammenhang ist, dass der Mensch selbst (bzw. die Menschheit) künstlich einen Raum konstruiert bzw. ein Programm schafft, das ihn behütet. Damit aber tut er nichts anderes, als sich die wichtigste Funktion Gottes bzw. der höheren Vernunft anzueignen. 

Der Mensch erschafft sich durch die Menschheit seinen Raum, und dieser Raum muss ein moralischer sein, da seinem Schöpfer (dem Menschen) im gegenteiligen Fall der Tod drohen würde.

Wenn wir z.B. am Steuer eines Autos die Geschwindigkeit überschreiten, bekommen wir eine Strafe. Eine an einem bestimmten Punkt des Raums installierte Fotokamera hat den Vorgang fixiert.

Diese niemals schlafenden Augen, Ohren, Nasen, Münder und Hände beobachten uns pausenlos.[22] Wir haben ihnen selbst das Recht übertragen, auf uns aufzupassen und uns auszuspionieren. Wir haben alles der Menschheit übertragen, die mit unserer eigenen Hilfe einen Raum totaler Überwachung organisiert. Und dieser auf der Basis der Moral aufgebaute Raum wird uns in Zukunft vollständig umgeben. Dieser heutige, menschliche, künstliche Raum ist nur eine klägliche Kopie jenes Raumes, in dem wir alle uns schon lange befinden, aber er ist nach dem Ebenbild des großen Raums aufgebaut.

Der von der höheren Vernunft bzw. Gott konstruierte moralische Raum ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, nach dem auch wir unseren Raum der Überwachung bauen. Wenn der Mensch die Regeln des Zusammenlebens verletzt, die Gesetze dieses Raums, bekommt er ebenfalls eine Strafe. Physische und moralische Leiden sind eben jene Strafen in unserem Leben.[23] Ebendiese zwingen den Menschen, Einkehr zu halten und anschließend hinter sich aufzuräumen, für sein Verhalten Sühne zu leisten. Was wir in die Welt senden (zuerst immer in Gedanken), fällt auf uns zurück und verändert uns schließlich. Deshalb verursachen selbst schlechte Gedanken dem umgebenden Raum Schaden.

Und wo befinden sich die Kameras und Sensoren, die auf den Menschen aufpassen? Natürlich ist es am einfachsten, sie im Menschen selbst anzulegen. Erinnern wir uns an Immanuel Kant: Der Sternenhimmel über uns und das moralische Gesetz in uns. Wohin der Mensch auch aufbricht, ob er zu anderen Planeten fliegt oder in eine tiefe Grube einfährt, die Beobachtung bleibt unveränderlich bestehen. Denn vor sich selbst kann man nicht weglaufen..

Aber die moralischen Räume existieren nicht nur für den einzelnen Menschen. Sie umgeben ganze Völker, Länder[24], die Menschheit. Und man möchte glauben, dass gerade dieser Mechanismus die Menschheit vor Selbstmord oder

Vernichtung von außen bewahrt.

Wenn der Mensch eine chemische Reaktion durchführt und genau weiß, was im Resultat passieren wird, interessiert er sich dann für das Verhalten einzelner Atome? Ob die höhere Vernunft, die den moralischen Raum um den Menschen und die Menschheit geschaffen hat, persönlich reagieren soll, oder eine automatische Antwort des Raums vollkommen ausreichend ist, wissen wir nicht. Der Metamensch/ Gott liegt jenseits unseres Denkens, er befindet sich in einer Welt einer anderen Vernunftebene. Deshalb steht jedem frei, sich vorzustellen, was er will. Das Resultat wird ohnehin ein und das gleiche sein. Lohnt es, sich deshalb gegenseitig umzubringen?

10. In Erwartung des Bardo[25]

Das Gesagte lässt sich auch anders interpretieren. Der Mensch übergibt der Menschheit, scheinbar aus eigenem Willen, eins nach dem anderen alle seine Rechte. Natürlich hat er das schon immer gemacht und macht es das ganze Leben. Und es bleibt schon kein Recht mehr, das sich die Menschheit nicht aneignen würde. Wenn schließlich auch der persönliche Bereich des Bürgers einschließlich der Gedanken einzelner Menschen in die Kontrolle der Menschheit übergeht, erweisen wir uns als direkte Anhängsel der Gesellschaft.

Ob man dies nun begrüßt oder bedauert: Die totale Übergabe dessen, was der Mensch bekommen und entwickelt hat, an die Menschheit ist ein unumkehrbarer Prozess und Teil des Programms. Dabei erweist sich die Gesellschaft im Endergebnis selbst als Metamensch, der immer latent in uns gelebt hat, so wie auch jedes neue Leben mitsamt dem Tod in jedem  Keim zu leben und sich zu entwickeln beginnt. Damit eine neue Qualität geboren werden kann, braucht es den Tod der vorangegangenen Quantität.[26] Wahrscheinlich ist es eben der Metamensch, den die Menschen an ihrem Fließband zusammensetzen.

Die Menschheit ist offensichtlich das, was an die Stelle des Menschen treten wird. Sie wird ihn einfach schlucken oder weniger schrecklich ausgedrückt, mit ihm verschmelzen, um dann bereits als neues souveränes Objekt zu existieren. 

Das ist keine Phantasie. Schon heute lässt sich sehen, wie das vonstatten gehen kann. Niemand wird bestreiten, dass das Leben komplizierter wird. Wer heutzutage ein High-Tech-Gerät oder z.B. ein Auto kauft, bekommt dazu einen 500 Seiten-Bestseller – die Gebrauchsanweisung. Und viele kommen nicht mehr damit zurecht. Die Zeiten, daß man sich einen Menschen oder eine Gruppe von Leuten vorstellen kann, die Technik ohne Hilfe zu steuern in der Lage ist, sind unwiederbringlich vorbei.Wir sind in eine Welt eingetreten, in der wir ohne Computer nicht effektiv funktionieren können. Ohne sie kommt es zu Stillstand und Chaos. Innerhalb von nur 50 Jahren haben Computer das Leben des Menschen vollständig verändert und ihn sich untertan gemacht. Das heißt, dass der Mensch praktisch freiwillig seine Freiheit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem Computer übergibt. Angesichts des rasenden Fortschritts der Technik und deren immer komplizierteren Handhabung wird der Mensch gezwungen sein, die Steuerung aller Prozesse (und zwar nicht nur der technischen) in die Hände von Maschinen (Computer und Roboter) zu legen. Das heißt, dass Gemeinschaft zum Zeitpunkt der Annäherung an den Punkt der Singularität[27] nicht wie früher aus Menschen und diesen unterworfenen Gesellschaften und technischen Mitteln bestehen wird, sondern aus einer Gesellschaft (dem Metamenschen) und diesem unterworfenen einzelnen Menschen, was im Ansatz bereits heute existiert. Natürlich wird der Metamensch wesentlich humaner sein als der Mensch. Denn der Mensch (Schöpfer) kann ja nicht einen künstlichen Intellekt und später einen Superintellekt schaffen, der ihm selbst feindlich ist. Er muss sich immer rückversichern. Alles wiederholt sich erneut.

Hier ist es interessant, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die zu schaffende Gesellschaft bzw. ihre Institute humaner sein werden als der Mensch selbst[28], der sich in seiner Geschichte nur wenig geändert hat. Natürlich werden die menschlichen Institutionen immer von einem Virus zerfressen, dessen Name Mensch ist, aber die biologische und soziale Evolution werden zusammen die Schaffung einer moralischen Menschheit vollenden. Die höhere Welt braucht kein schmutziges, amoralisches Bewusstsein und sie wird es durch ihre Filter nicht dorthin lassen.

Bald wird sich zeigen, dass das Leben so kompliziert ist, dass es zu gefährlich ist, die Zukunft dem Menschen anzuvertrauen, so dass dieser sanft in Rente geschickt wird. Er wird von den Geschäften entfernt sein, dabei lange leben, nichts missen, ohne Kriege und Konflikte leben und schließlich sein durch Leiden wohlverdientes Paradies bekommen. Und dann wird er langsam  degenerieren.[29] Zu  dieser Zeit – vielleicht die Zeit des entwickelten Kommunismus, werden alle in fast allem gleich sein. Die menschliche Kunst und Geschichte wird tatsächlich enden: Die Kunst deshalb, weil es sinnlos ist, absolut standardisierte Geschichten zu beschreiben, wenn alle gleich gut leben, gleich gut denken, und gleich gut aussehen. Die Geschichte wird enden, weil in der menschlichen Geschichte nichts mehr passieren wird, keine Konflikte, keine Kriege. Warum sollte es sie geben, wenn es allgemeinen Überfluss gibt und nichts geteilt werden muss oder kann. (so gesehen war Francis Fukijama mit seinen Schlussfolgerungen ein bisschen voreilig, als er die liberale Demokratie zum Gipfel der sozialen Entwicklung erklärte[30], so wie es schon vor ihm Hegel mit der preußischen Monarchie getan hatte). Wie jeder aussortierte, aber immerhin wohlhabende Pensionär wird auch der Mensch allmählich verwelken. Aber an seiner Stelle erscheint in vollem Glanz der Metamensch. Wir alle bringen, wenn wir im Metamensch sterben, diesem alles, was wir sind, was wir durch Leiden verdient und geschaffen haben. Nichts geht verloren.

Schauen wir uns andererseits die Pyramide des Lebens an. Das Fundament bilden Milliarden Bakterien, dann kommen Millionen einfache Organismen, Tausende Insekten, Hunderte Säugetiere und schließlich an der Spitze der Mensch. Nach der von Teilhard de Chardin so wunderbar beschriebenen Regel des Aufrollens der Materie kommt es zu einer Verdichtung und Komplizierung der Konstruktion bei Steigerung des Intellekts, was wahrscheinlich auch das Gesetz des gesamten Universums ist. Wir sehen, wie sich buchstäblich alles in einem Punkt an der Spitze der Pyramide zusammenzieht. Unsere gesamte Welt wurde so aufgebaut, dass man am Ende dieses Produkt erhält: den Metamenschen. Der Metamensch gehört wie alles Grenznahe gleichzeitig zu unserer Welt und gehört schon nicht mehr zu ihr. Er befindet sich im Punkt der Singularität. Deshalb lässt er sich schon nicht mehr genau denken. Vielleicht ist er eine Kombination aus Mensch und Maschine (nach dessen Ebenbild), die mit Sicherheit mit einem Superintellekt ausgestattet ist, der mit dem menschlichen nicht zu vergleichen ist.

 Alles in dieser Koordinate komprimiert sich in einem Punkt. Es gibt keine Einteilungen mehr, kein Gut und Böse, keinen Tod. Alles stürzt ein. Die Stadt stürzt ein, Häuser, Mauern, die die Menschen voneinander trennen, der auf Blut und Tränen aller Generationen errichtete Turm von Babel. Wir sehen bereits, wie er sich neigt und Risse bekommt. Die Menschheit vereint sich. Es gibt nicht mehr Männer und Frauen, Weiße und Schwarze, Kluge und Dumme, Mörder und Ermordete, Gewalttäter und Gewaltopfer, Diebe und Ausgeraubte, Lügner und Betrogene, Missetäter und deren Opfer. Alles, was die Menschen hinderte, sich zu vereinen, verschwindet, weil es der Metamensch schlicht nicht mehr braucht. Es entfällt ganz von selbst. Und sobald sich der Rauch verzieht, erblickt die Menschheit die Neue Stadt. Alles wird wie in Hollywood sein.

Aber an dieser Stelle muss einem klar sein, dass die sich zerstörende Stadt (Apokalypsis)[31] sich diesseits des Punkts der Singularität befindet, aber die neue Stadt (Apokatastasis) bereits jenseits. Und was dort, im neuen Leben sein wird, wissen wir nicht, da der Metamensch mit einem gänzlich anderen Denken, einer gänzlich anderen Vernunft ausgestattet sein wird, die mit absoluter Sicherheit nicht westlich sein wird.

In diesem Punkt werden sich viele Ideen realisieren, die sich der Mensch durch Leiden verdient hat: Der Mensch wird – durch die Menschheit – zum Metamenschen. Er wird wieder Adam. Alle Menschen verschmelzen und erschaffen Adam neu, der einst der höheren Welt angehörte.

Über uns steht eine Vernunft, die wir selbst schaffen – die Menschheit. Auf diesen schockierenden Gedanken kommen [32]die Leute auf unterschiedlichen Wegen. Nur setzen sie immer einen Menschen über uns, was nicht sein kann, da der Mensch nicht in der höheren Welt existieren kann.

Viele fürchten, dass es zu einer Katastrophe kommt: Die Menschheit wird sich selbst auslöschen oder es kommt eine neue Sintflut, oder eine Kollision mit einem Meteoriten oder noch etwas anderes. Aber wenn über uns eine humane Vernunft steht, die Menschheit selbst, die diesen Weg bereits durchlaufen hat, wie kann sie dann den Untergang ihresgleichen zulassen. Das lässt sich nicht glauben. Die Menschheit muss ihren Weg bis zu Ende gehen.

Ins Gedächtnis kommt eines der letzten Bilder Rembrandts: „Die Rückkehr des Verlorenen Sohns“. Natürlich sehen wir alles anthropomorph: Der Sohn in Lumpen und der fast erblindete Vater, der seinem Sohn die Hand auf die Schulter legt und verzeiht. Aber es kann durchaus sein, dass alles ganz anders aussehen wird, dass nämlich ein alter Mann in ausgetretenen Schuhen seinen jungen und ewig lebendigen strahlenden Sohn-Vater um Vergebung bitten wird.[33]

11. Das Ziel des Menschen

Tatsächlich lässt sich das Ziel des Menschen folgendermaßen formulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, den Menschen zu töten. Dieses globale Ziel ist hier in der schockierendsten Form ausgedrückt, lässt sich aber auch in anderer Form umformulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, sich in den Metamenschen zu verwandeln. Ausgehend von dem Obengesagten bedeuten diese beiden Formulieren absolut das Gleiche. Weil der Mensch nur dann, wenn er den Mensch in sich tötet, und nicht früher, im Metamenschen verschmelzen kann, d.h. dieser werden kann. Deshalb ist es wahrscheinlich am besten zu formulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, den Menschen in sich zu töten und zum Metamenschen zu werden.

Und warum soll eigentlich die erste These den Menschen schockieren. Schließlich ist er von Generation zu Generation täglich damit beschäftigt, sich selbst zu töten. Und dabei spreche ich gar nicht von Kriegen und direkten Morden. Schließlich kann man sagen, dass alltäglicher Streit, Konflikte und Zusammenstöße auch nichts anderes sind als das Bestreben, den anderen mental auszulöschen.

12. Die Blüte Europas

Anfang des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte Oswald Spengler sein berühmtes Buch „Der Untergang des Abendlands“, in dem er im wesentlichen die menschliche Kultur und die über Jahrhunderte angehäuften Werte beweinte. Seines Erachtens degeneriert die organische Kultur sterbend zu ihrem Gegenteil – der Zivilisation, in der nackter Technizismus herrscht und Kreativität und Entwicklung durch Fruchtlosigkeit und Verknöcherung verdrängt werden. Schon vor Spengler hatten russische Schriftsteller und Philosophen des 19. Jahrhunderts ihre Ablehnung der neuen Welt zum Ausdruck gebracht.[34] Von Ivan Kirejewskij und Wladimir Solowjew bis Lew Tolstoj und Fjodor Dostojewskij widmeten sie sich der Frage der Gottlosigkeit der europäischen Kultur, d.h. der Frage der europäischen Zivilisation. Die Verkümmerung des religiösen Gefühls, der Verfall monumentaler Kunstformen, der Verlust eines organischen Lebensgefühls, die endlose Problematik des Lebens, dem eine Ansammlung lebloser Emotionen untergeschoben wird, die Entpersönlichung des Menschen durch den Mechanismus, die Verwandlung seiner Seele in den Bodensatz seines Berufs, der Tod der Nation im Kosmopolitismus – das waren die Themen der russischen Slawophilen.

Aber der Skeptiker Spengler hat sich zugleich als guter Prophet erwiesen. „Es vergehen einige Jahrhunderte und auf dem Erdball wird es keinen Deutschen, Engländer oder Franzosen mehr geben, wie es zu Zeiten Justinians keinen einzigen Römer mehr gab.“ (Den endgültigen Tod der „Faustischen Kultur“ sagt Spengler für das Jahr 2000 voraus, wie immer ein bisschen übereilt, da immer noch ein paar Inseln dieser Kultur existieren, aber im großen und ganzen recht genau.)

Der Inhalt seiner Prophezeiung – der Tod der europäischen Kultur – setzt sich vor unseren Augen fort. Jetzt allerdings ist schon die Rede vom Tod des Menschen an sich, aber das konnte Spengler vor 100 Jahren ebenso wenig sehen, wie wir heute sagen können, welche Perspektiven sich in 100 Jahren eröffnen werden.

Zugleich zwingt Spengler sich zu glauben, dass in jeder Aktionärsversammlung eines großen Unternehmens unvergleichlich mehr Verstand und Talent versammelt seien als bei allen zeitgenössischen Künstlern zusammen. Spengler träumt davon, durch sein Buch möglichst viele junge Menschen vom Weg des sinnlosen und in seiner Zeit unmöglichen Musendienstes abzubringen, um sie zu Ingenieuren oder Chemikern zu machen.

Und auch hier sollte er Recht behalten. Schauen wir doch, was vor unseren Augen in der Kultur passiert, die immer eine konzentrierte Spiegelung des Zustands einer Gesellschaft war.

Wahrscheinlich kommt man nicht umhin, Marcel Duchamps (und nicht etwa Kasimir Malewitsch) mit seinem als Kunstobjekt ausgestellten Pissoir als wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts anzusehen.

Im Lichte der hier betrachteten Ideen war just dieses Pissoir das erste auf einer Ausstellung gezeigte Objekt der modernen Geschichte, das nicht vom Menschen (und nicht einmal von einer Gruppe Menschen), sondern von der Menschheit geschaffen wurde.

Bei dieser künstlerischen Geste ist erstmals das Individuelle abhanden gekommen. Dem Mensch wurde angeboten, sich am Öffentlich-Kollektiven zu begeistern. Und was nicht alles im Gefolge Duchamps in die Museen gekarrt wurde und immer noch wird: Maschinen, Eisen- und Holzteile, Schotterhaufen, Räder, Nichts, Schrauben, Stiefel, allerlei Plunder...Dabei wird all dies in gewisser Weise in den Tempeln der Kunst sakralisiert. Gleichzeitig aber werden die Museen selbst entsakralisiert, indem man sie zu Speicherhallen für Schrott jeglicher Art macht, zu Pfandhäusern, aus denen nie irgendjemand irgendetwas wieder auslösen wird.[35] Grundsätzlich besteht das Problem der aktuellen Etappe des Verfalls bzw. der Entwicklung der Kunst darin, dass sie nicht sterben will und sich deshalb an das neue klammert, ohne freilich das alte loszulassen (zugegebenermaßen war dies immer so). Wenn man sich die großen Schauen zeitgenössischer Kunst anschaut, die Biennalen und Documentas, dann haben sich diese in Vergnügungsparks verwandelt, bei denen das Publikum vorbeischaut, um sich zu erholen oder zu lachen, so wie in Spiegelkabinetten mit amüsanten Zerrspiegeln[36]. Die Museen sind leer. Alle sind auf den Autosalons in Detroit oder verfolgen mit zurückgeworfenen Köpfen die Flugschau in Le Bourget oder begeistern sich für die neueste Technik auf der Cebit in Hannover. Die Kunst einzelner Kunsthandwerker ist für die Leute schon nicht mehr interessant. Sie begeistern sich für die Kunst der Menschheit.

 Die Menschheit möchte sich an der Kunst der Menschheit begeistern, an ihrer eigenen Kunst. Und man muss sagen, dass es tatsächlich viel gibt, was einen in Begeisterung versetzen kann. Das wunderschöne Concorde-Flugzeug, das neueste Modell von Toyota – das ist tatsächlich zeitgenössische Kunst. Das Design siegt. Diese Kunst kann schon nicht mehr von einem einzelnen Menschen geschaffen werden. Das ist die Kunst von Tausenden und Millionen. Diese Kunst ist schon auf dem Weg zur Kunst des Metamenschen.[37] Wozu brauchen wir heute Performances in Museen und Kunstgalerien, wenn die Straße schon längst alles übernommen hat. Die Aktionen von Greenpeace oder Tausender streikender Arbeiter haben hinsichtlich ihres künstlerischen Niveaus und ihrer Aktualität schon längst alle Verrenkungen und Grimassenschneidereien in den Museen in den Schatten gestellt. Die Dichtkunst ist schon fast verschwunden und wird durch Reklameslogans ersetzt. Die Opern Bergs oder Schönbergs werden von niemandem besucht. Gepriesene Opernregisseure verkleiden Aida, Nadir oder Parzival ständig in Jeans. Und sie können sich nichts besseres ausdenken. Hauptsache das Publikum wird gehalten, um nicht ohne Arbeit zu bleiben. Das echte Theater hat sich schon längst in die Politik verzogen. Präsidenten und Premiers sind die richtigen Show-Männer.

Die Entstehung des Konzeptualismus als Kunstrichtung zeugt davon, dass man sich an Gedanken genauso ergötzen kann wie an Gefühlen. Die künstlerische Form befreit sich allmählich von ihrem sinnlichen Inhalt. Der Nullpunkt des Anthropomorphismus schließt das Vorhandensein von Gefühlen aus.

 Das Gefühl gehört der Kunst des Menschen, der Gedanke der Kunst des Metamenschen.[38] 

Oswald Spengler hat nirgendwohin gerufen. Er ist an einer Weggabelung stehen geblieben. Er schaut zurück auf die durchlaufene Kultur, die ihm unendlich teuer ist wie uns allen, die in ihr großgeworden sind und leben. Und ihn fesselt der Gedanke, dass all dies die letzte Erleichterung und Tröstung des Todes ist. Aber es gibt keinen Tod. Er fürchtet den Blick nach vorn. Und das Schicksal geht auch jenseits dessen weiter, was die Faustische Seele als einziges Leben ansah. Für unsere Generation ist es schwierig, dies zu akzeptieren. Aber es werden andere kommen, und nach ihnen wieder andere, und alles, was uns schockiert, wird völlig normal sein. Hollywood arbeitet mit Volldampf daran, indem es uns Schritt für Schritt an die unabwendbare Realität heranführt.

13. Alles ist vorherbestimmt, aber es gibt Freiheit[39]...

Was sind das für Kategorien: Gewissen, Seele, Vernunft? Nur wenn sie dies versteht, wird die Menschheit alles bekommen und kann sich in den Metamenschen verwandeln. Bereits heute sind Programmierer gezwungen, wenn sie Leben modellieren, diesen sakralen Begriffen höchst prosaische mathematische Charakteristika zu geben.[40]

Alles in unserem Leben hat seine Programme. Wenn wir in einen geeigneten Boden ein Senfkorn pflanzen, dann können wir sicher sein, dass daraus ein Senfstrauch wachsen wird. Er kann vom Wind geschüttelt werden, sich zur einen oder anderen Seite neigen, aber es wird ein Senfstrauch sein und keine Eiche. Das heißt, dass in dem kleinen Senfkorn bereits als Projekt der Strauch enthalten ist. Und so ist es mit allem in unserer Welt. Alles hat seine eigenen Programme – der Mensch, ein Geschlecht, eine Nation. Später werden sich alle einzelnen Programme zu einem einzigen großen Projekt vereinen. Und das ist dann auch das Programm unserer Welt.

Der Mensch wurde gepflanzt und die Menschheit keimt auf. 

Just die Programme sind dafür verantwortlich, dass alles in der Welt zu seiner Zeit geschieht[41] und einem großen Plan unterworfen ist. Man kann sich schlecht etwas anderes vorstellen. Der Computer beginnt erst dann zu funktionieren, wenn der Programmierer ihn mit den entsprechenden Anweisungen füttert.

Wahrscheinlich gibt so etwas wie ein Gedankenfeld – ähnlich einem Elektro- oder Magnetfeld – das zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch nicht ausreichend erforscht ist, sich aber durchaus zeigt. Etwa das Leuchten von Lebendem in einem elektromagnetischen Feld, den Kirlianeffekt, der beweist, dass alles Lebende eine Aura hat- Und was ist Suggestion bzw. Hypnose anderes als die Übermittlung von Gedanken an andere. Es gibt Leute, die über die Fähigkeit verfügen, nicht nur auf einzelne Personen sondern auch auf Massen einwirken können. Tausende Leute, die hysterisch ihre Arme Diktatoren entgegenstrecken, Tausende, die in Trance fallen, wenn sie Musikern oder Politikern zuhören. All diese Leute befinden sich offensichtlich in einem veränderten Bewusstseinszustand. Ein anderes bekanntes Phänomen sind die écriture automatique und andere Formen der Schreibtätigkeit durch Suggestion oder Hypnose,  wenn ein Mensch, ohne sich dessen bewusst zu sein, ganze, von einem Unbekannten diktierte Bücher schreiben kann, zuweilen sogar in Sprachen, die er gar nicht kennt. Ich denke, dass alle wichtigen Bücher der Menschheit so geschrieben wurden. Tatsächlich weiß dies jeder Mensch, und vor allem wissen dies kreativ tätige Leute, egal, ob in der Wissenschaft oder Kunst. Die besten Ideen kommen, wenn sich der Mensch in einer Art Trance befindet. In diesem Moment verfliegt das Gefühl von Zeit und Sinnen, der Mensch schaltet sich von dieser Welt ab, schließt sich an eine andere Welt an und beginnt, die zu diesem Zeitpunkt schon fertige Information „herunterzuladen“. Alle spirituellen Praktiken basieren auf einem Trance-Zustand: ein tiefes Gebet (nicht etwa ein mechanisches Murmeln), rituelle Tänze, fernöstliche Praktiken, Psychoanalyse, neuro-linguistische Programmierung, Autotrainings, die immer Entspannung, faktisches Ausschalten der Sinne und Konzentration auf einen Informations- bzw. Gedankenkanal erfordern. D.h., dass sich der Mensch entweder selbst wie ein Objekt auf den Empfang einstellt oder eingestellt wird, indem ein Gedankenfeld genutzt wird. Das Gedanken- bzw. Informationsfeld durchdringt und verbindet das gesamte Universum, und sein Empfänger befindet sich in uns.

Man kann ergänzen, dass der Mensch, sobald bekannt sein wird, wie das Gedankenfeld funktioniert, ausgedient haben wird, da die Fähigkeit, Informationen von außen zu empfangen, das ist, was den Menschen von der Maschine unterscheidet.[42]

14. Die Göttliche Komödie

Gibt es Hölle, Fegefeuer und Paradies, also die Räume, deren Topographie Dante mental erforscht hat, tatsächlich? Existieren sie außerhalb unser oder in uns? Vielleicht sind die von Dante beschriebenen Flugbahnen und Geschichten eine Erzählung über die menschliche Seele, in der all dies potentiell existiert. Oder vielleicht sind das alles Verirrungen unseres geteilten Verstands? Muss wirklich ein Teil der Menschheit in einer speziellen Küche gebraten werden? Es ergibt sich der Eindruck, dass die menschliche Phantasie immer mit der Wirklichkeit konkurriert. Und es ist völlig unmöglich zu sagen, wer gewinnt. Tatsächlich sind unsere Phantasien natürlich nur Projektionen der Wirklichkeit und allein deswegen schon vollkommen phantastisch.

In jedem Fall kann man sich vorstellen, dass das Paradies bei der Annäherung an den Punkt der Singularität als eine Prämie für die Menschheit möglich ist. Und Fegefeuer und Hölle haben wir immer zu allen Zeiten. Vielleicht rahmen Hölle und Paradies unser Leben ein, indem sie in ihm enthalten sind. Und wir bewegen uns in der Welt der Divergenzen von einem Pol zum anderen – von den Unterschieden zur Einheit.

15. Wendepunkt. Collapse Art.

Alle Zeiten sind wichtig, aber besondere Verantwortung wird in Zeiten des Umbruchs benötigt. Allem Anschein nach durchleben wir gerade eine dieser Zeiten. Der Mensch ist an einem Punkt angelangt, wo er sich selbst verändern kann, seine Natur deformieren kann. Wir befinden uns wahrscheinlich in einer Phase irgendwo am Grund der Hölle. Denn eine Welt ohne Einteilungen ist das Paradies. Und eine Welt mit maximalen Einteilungen ist die Hölle. Die Hölle, weil diese Unterschiede auch Verführungen hervorbringen. Das heißt, dass wir (in den entwickelten Ländern) in einer Welt maximaler Verführungen leben und nicht lange in diesem Zustand verharren können, da in der Welt der Divergenzen ein unverhältnismäßiges Anwachsen der einen Eigenschaften zu einer größeren Rolle des Gegenteiligen führt. Ebendies ist der Wendepunkt. Es scheint, dass gerade jetzt die von Gesellschaft und Maschinen gewährleisteten Faktoren der Vereinigung volle Kraft in Gang gesetzt werden sollten. Der Mensch selbst ist schon nicht mehr in der Lage, allein mit der ihm auferlegten Mission fertig zu werden. Er kann nur immer tiefer fallen.

Grundsätzlich ist das Szenario des Abstiegs in die Hölle nicht neu. Herakles, der aus dem Erdenzelt wegging und das untere Haus Pluto überließ, Orpheus, der in ebenjenem Reich Euridike suchte, Krischna, der in den Hölle hinabsteigt und sechs seiner Brüder befreit, Jesus... Offenbar muss man vor dem Aufstieg den Boden berühren, den ganzen Kreisweg durchlaufen.

Die heutige Zeit ist überaus wichtig. Der Mensch hat sein ganzes Leben gelebt, um die Unterschiede zu vergrößern, seine Individualität und seinen Egoismus zu verteidigen. Aber mit Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt sich das Bild in sein Gegenteil zu kehren. Die Russische Revolution, die weltumspannende Internationale, neue soziale Ideen. Natürlich war dies alles vor seiner Zeit, aber es war ein Anfang. Damals siegte das Menschliche, weswegen alles schiefgelaufen ist. Aber jetzt, hundert Jahre später, ergeben sich ganz andere Perspektiven. Natürlich wird sich der Mensch nicht einfach ergeben und ein Hindernis nach dem anderen errichten, aber die Wurzeln dieses Widerstands sind schon untergraben. Und eine Alternative zum Weg zur allgemeinen Vereinigung hat der Mensch nicht.

Deshalb müssen wir Schritt für Schritt unser Denken verändern. Und das ist schwieriger als alles andere. Alle sprechen von einem neuen Denken, aber niemand gibt sich Rechenschaft darüber, dass sich dies durch Reden allein noch nicht formulieren lässt. Und dieses neue, eigentlich sehr alte Denken, das Streben nach Vereinigung in Verbindung mit der „Demut gegenüber dem Leben“, ist  just das, was der Mensch abgelegt hat, nicht ernst genommen hat, nach seinem eigenen Gutdünken umgemodelt hat. Es zeigt sich, dass wir so oder so, auch wenn wir uns dem Punkt der Singularität von der anderen Seite aus nähern, trotzdem verpflichtet sind, unser Bewusstsein vom Schmutz zu reinigen, der von uns über Jahrhunderte angehäuft wurde. Heute steht die Menschheit kurz vor dem Kollaps. Und wie auch für einen einzelnen Menschen ist dies ein sehr kritischer Zustand.

Es kollabiert auch die menschliche Kunst. Sie schickt uns ein SOS nach dem anderen, aber wir hören nichts oder wollen nicht hören. Die Kunst hat sich in etwas flackerndes, funkelndes Clipartiges verwandelt, das ständig in Bewegung ist. Sie wurde schließlich schon vor langem zum wichtigsten Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Aber die Kunst ist in dieser Übergangszeit von herausragender Wichtigkeit. Und ich stelle mir vor, dass auf dem Weg zur Verschmelzung mit Design und Wissenschaft doch noch eine Periode der Ruhe und Kontemplation sein wird.

16. Wo bist du?

Natürlich kann man sagen, dass die Perspektive, in den Metamenschen überzugehen, nicht allen Menschen gefällt. Dies betrifft vor allem Anhänger der westlichen Denkweise. Viele assoziieren bis in die heutige Zeit materiellen Fortschritt mit dem Teufel. Man könnte glauben, dass ihnen ein anderer Weg bekannt ist. Aber in der Welt der Divergenzen gibt es einen solchen Weg nicht.

Wir können uns an die Zeit vor etwa hundert Jahren erinnern, als die ersten Maschinen auftauchten, wir können uns an die wütenden Worte Lew Tolstojs erinnern und den Schrecken Dostojewskijs vor der heraufziehenden neuen Welt, dem menschlichen Ameisenhaufen... Und auf der anderen Seite an die Begeisterung der Futuristen und Avantgardisten und an ihre Hoffnungen, wie heute Utopien genannt werden, auf die Hilfe der Maschinen...

So werden sich wahrscheinlich Leute finden, die der totalen Gleichmachung zu entfliehen bestrebt sind. Und wenn dieses Szenario besonders bedrohlich werden wird, werden sie sich in Wäldern (wenn es diese noch geben wird) oder Kluften verstecken oder zu anderen Planeten fliegen. Viele von ihnen werden umkommen, viele werden sich in Tiere verwandeln, aber jene, die überleben, können theoretisch ein neues Leben anfangen. Und das werden erneut Menschen (adams) sein, die nicht hören wollten und Äpfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gewählt haben. Und alles wird noch einmal von vorne beginnen. Anders kann es nicht sein. Blut, Mord, Verrat, Konzentrationslager, aber auch Bach und Rembrandt... Und wieder werden die Leute auf ihren Buckeln ihre ein klein bisschen veränderten Geschichten zum neuen Metamenschen tragen. Und erneut werden sie sich an eine Goldene Vergangenheit erinnern, an Lemuria und Atlantis.

Nachwort:

Der Autor vertritt die Auffassung, dass es keine prinzipiell neuen Ideen gibt und lediglich die Zeit einige von ihnen aktualisiert und präzisiert, indem sie andere zwischenzeitlich beiseite schiebt.

1.     Im Unterschied zu Alvin Tofflers Buch „Die dritte Welle“, das auf 500 Seiten Tausende Kriterien erfasst, werden an dieser Stelle die gleichen Probleme auf 20 Seiten anhand eines einziges Parameters (Einheit-Unterschiede) untersucht. Es zeigt sich, dass gerade das Kriterium des Unterschieds der gesamten komplizierten Struktur zugrundeliegt.

2.     Es wird belegt, dass ein Sieg des Menschen über Leiden und Tod ohne globale Einheit nicht möglich ist. Dies ist der einzige Weg, einen anderen gibt es nicht.

3.     Gerade die Menschheit kann sich als jener Übermensch (Metamensch) erweisen, der den Menschen beerbt. Gerade die Menschheit schafft um sich einen künstlichen moralischen Raum.

4.     Es konkretisiert sich der Begriff des „neuen Denkens“, der mit der heutigen Zeit korrespondiert, einer Zeit des Umbruchs, in der es auch zu einer Änderung des Denkens kommt.

Igor Ganikowkskij. Odenthal. 2006-07.

Übersetzung aus dem Russischen: Lars Nehrhoff.


[1] Der russische Kosmist Nikolaj Fjodorow hat Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben: „In der heutigen Zeit läuft alles darauf hinaus, dass man schließlich den verlorenen Sinn des Lebens finden muss, das Ziel verstehen muss, dessentwillen der Mensch existiert, und das Leben diesem entsprechend einrichten muss. Und dann zerstört sich die ganze Verwirrung, die ganze Unsinnigkeit des modernen Lebens von selbst. N. Fjodorow: „Filosofija obschego dela“, Bd. 1.


[2] Sich ein vierdimensionales Objekt vorzustellen erlaubt weder unser äußeres noch unser inneres Sehvermögen.


[3] Deshalb kehrt womöglich niemand nach dem Tod zurück. Einmal geschaffen hat die Welt immer einen Anfang und ein Ende, wie alles künstliche. In unserer Welt gibt es kein perpetuum mobile. Ein solches perpetuum mobile für unsere Welt kann nur außerhalb dieser existieren.


[4] Siehe z.B.: Stephen Hawking: „Kurze Geschichte der Zeit“.


[5] Natürlich lassen sich hierzu auch andere Religionen wie z.B. der Taoismus zählen. Aber sie sind ohnehin alle zwischen dem Buddhismus und dem Judentum als besonders extreme und radikale Projekte anzusiedeln.


[6] Der Judaismus verbietet dem Menschen, sich von der niederen Welt loszulösen. Er fordert, nicht nur selbst Heiligkeit zu erlangen, sondern auch die gesamte niedere Welt zusammen mit sich zu den Himmeln zu erheben. Heiligkeit soll nicht dem Leben entgegengesetzt sein, sondern soll sich in ihrer ganzen Fülle realisieren, in den materiellen Objekten nicht weniger als in den geistigen.


[7] Der Zustand des Nirwana


[8] In der tibetischen Tradition wird zwischen zwei Arten des Unwissens (Marigpa) unterschieden: angeborenem und kulturbedingtem. Ersteres ist die Unkenntnis der wahren Natur der Welt, infolge derer wir in Verirrungen unseres Verstands gefangen sind, der die Einheit in Gegensätze teilt. Auf Grundlage einer solchen abstrakten Einteilung entstehen bei uns Präferenzen, die sich als Neigung und Ablehnung, Gut und Böse zeigen. Die zweite Art des Unwissens ist kulturbedingt. Es drückt sich in Geboten und Verboten aus, die sich in einer Gesellschaft gebildet haben und in ein Wertsystem gegossen sind. Verschiedene Überzeugungen gehen von Vorurteilen und Aberglauben aus, die Teil der Kultur sind, und nicht von ureigenem Wissen.


[9] Im weiteren soll nur das westliche Modell betrachtet werden.


[10] Zur heutigen Entfremdung der Menschen siehe auch: Alvin Toffler: „Die dritte Welle“


[11] Vor 150 Jahren hätte das Auftauchen moderner Autos auf den Straßen der Städte eine eindeutige Reaktion hervorgerufen: Außerirdische sind gelandet. Wenn wir heute den Kopf heben und plötzlich fliegende Untertassen über unseren Köpfen sehen, würden wir das gleiche denken, obwohl es durchaus möglich ist, dass solche Untertassen in 70 Jahren eine völlig normale Sache sein werden.


[12] Gleiches vollzieht sich auch bei einem Puzzle-Spiel, bei dem die größte und zeitraubendste Schwierigkeit darin besteht, die ersten Puzzleteile zu finden und richtig zu legen (zumal der Mensch im Unterschied zu Gott nicht das ganze Bild vor sich sieht), während es im weiteren Verlauf immer einfacher wird und das letzte Puzzleteil automatisch gelegt werden kann, weil es keinen anderen Platz für es gibt und das allgemeine Bild bereits fertig ist. Wichtig ist hierbei, dass sich die Welt stufenförmig auftut, indem sie ihr Schema Schritt für Schritt offen legt und die Geschwindigkeit des Aufdeckens dabei zunimmt. Igor Ganikowskij: „Der Mensch als Antivirenprogramm“.


[13] In Amerika gibt es bereits die industrielle Produktion geklonter Tiere (Katzen, Hunde, Pferde, Stiere...). Das Anliegen einiger Regierungen, das Klonen von Menschen oder Manipulationen menschlicher Zellen zu verbieten, hat keinerlei Perspektive, da es noch nie und nirgendwo auf der Welt gelungen ist, das menschliche Denken aufzuhalten. Alle diese Versuche erinnern an das Experiment des Aufbaus des Sozialismus in einem einzigen Land und führen nur zu intellektueller Rückständigkeit. Sie zeugen von einem gefährlichen, völligen Unverständnis dieser Regierungen für die Ziele der Menschheit und ihrem Wunsch, die Menschheit in einer Welt der Konzentrationslager, der Leiden und des Todes zu halten. Was könnte die Menschen gleicher machen als das Klonen?


[14] Singularität - Explosion in der Nano-, Bio- und Computertechnologie.

Molekulare Nanotechnologie - vollständige Kontrolle über die Struktur der Materie auf der Ebene des Atoms.

Molekulare Biotechnologie - funktionale Genetik, Mikrobiologie, Zytologie.

AI: Künstliche Computerintelligenz mit Vernunft und kognitiven Fähigkeiten auf menschlichem Niveau.

SAI – Künstlicher Computerintelligenz übermenschlichen Niveaus.

Die Evolution von Robotern wird etwa um das Jahr 2040 menschliches Niveau erreichen. Die sich exponentiell entwickelnden Technologien werden unser gesamtes Leben in unerdenklich kurzer Zeit verändern Die Singularität wird zu fast grenzenlosen technischen Möglichkeiten führen. Die Menschen, die in heutiger Zeit um knappe Ressourcen kämpfen, werden einen unerdenklichen Wohlstand und Freiheit erlangen.

Michael Deering: „Dawn of Singularity“

Es ist symptomatisch, dass Deering ebenfalls das Wort "Singularität" benutzt, allerdings als Synonym für Miniaturisierung

Die Berechungen basieren im wesentlichen auf dem sogenannten Mooreschen Gesetz, das nach Gordon Moore benannt ist, einem der Mitbegründer von Intel, der 1965 bemerkte, dass sich die die Komplexität integrierter Schaltkreise mit jedem Jahr verdoppele.


[15] Natürlich gab es immer wieder auch Perioden einer Ausweitung der Einheit. Wie immer in der Welt der Gegensätze beobachten wir einen Kampf unterschiedlicher Tendenzen.


[16] Siehe ausführlicher: László, Ervin: „The Age of Bifurcation. Understanding the Changing World”


[17] Einer Verschmelzung der Kirchen stehen eher menschliche als göttliche Faktoren im Weg. Das Grundprinzip aller Kirchen ist ein und das gleiche: „Füge keinem anderen zu, was du nicht für dich selbst willst.“ Das gleiche Prinzip der Einheit wurde in noch ausgeprägterer Form von Albert Schweitzer als Ehrfurcht vor dem Leben ausgedrückt (vor jeglichem Leben, nicht nur dem menschlichen). Albert Schweitzer: „Kultur und Ethik“.


[18] Die Errungenschaft der modernen Wissenschaft zeigt, dass Einheit der Materie zugrunde liegt oder die gesamte Informatik auf Nullen und Einsen aufbaut.


[19] Allerdings wird der Mann für den Aufbau von Samenbanken einstweilen noch gebraucht.


[20] Der „Neue Mensch“ ist als Begriff durch den historischen Gebrauch kompromittiert. Allgemein haben Begriffe wie „der Neue Mensch“, „Übermensch“,“Nano Sapiens“... eine lange Geschichte in der philosophischen Diskussion etwa bei Feodor Dostojewskij, Fridrich Nietzsche, Teilhard de Chardin, Lev Trotzkij, Hermann Rauschning,  Frans Fanon Hans Moravetz und anderen... Bei ihnen allen hat sein Bild unterschiedliche, höchst verschwommene Züge.


[21] Es ist tatsächlich eines der größten Unglücke des Menschen, dass er nicht warten will. Wir versuchen oft, etwas mit Gewalt loszuwerden, statt zu warten, bis es von selbst verschwindet. Oder wir wollen etwas haben, was noch nicht reif ist.  


[22] Durch die Nutzung von Videokameras, Mikrophonen und Bewegungsmeldern lässt sich ein ununterbrochener Informationsfluss aus der realen Welt in ein künstliches Neuronennetz gewährleisten. Interaktivität lässt sich durch die Hinzuziehung von Manipulatoren erzielen.


[23] Tore sind eines der wichtigsten Elemente der moralischen Räume. Verletzt der Mensch die Gesetze der moralischen Räume, schafft er dadurch einen neuen (negativen) Subraum, verändert den alten Raum und betritt durch ein Tor diesen neuen. Dieser Raum wiederum weist bereits veränderte Eigenschaften auf und gleicht in der Regel einem Labyrinth, in dem der Mensch lange umherirren kann – manchmal sein ganzes Leben lang – bis er erkennt, was er falsch gemacht hat, an welchen Punkten dies geschehen ist. Dann kann er diesen Raum wieder verlassen, und der von ihm geschaffene Subraum wird annulliert. Die Eigenschaften des früheren Raums werden wiederhergestellt. Igor Ganikowskij. „Moralische Räume“.


[24] Russland z.B. hat für Millionen Gequälte nie Sühne geleistet oder sich auch nur entschuldigt. Deshalb wird es offenbar ewig von einem Labyrinth ins andere gehen bzw. ewig durch ein Labyrinth irren.


[25] Bardo (Tibetisch; Sanskrit: Übergangszustands): Gewöhnlich versteht man unter diesem Begriff den Übergangszustand zwischen Tod und anschließender Wiedergeburt.


[26] [26] In Hegels „Wissenschaft der Logik“ erhebt sich die Absolute Idee ausgehend vom absoluten Nichts konsequent zu sich selbst, aus sich selbst wie aus einem Saatkorn, und entfaltet alle ihre Bestimmungen, bis sie schließlich alle Ausrichtungen des Geistes in sich einschließt. Aber gerade dieser Endpunkt wird zum wahren Anfang des Weges.

„Die harmonisierte Gesamtheit der Bewusstseine ist einer Art Überbewusstsein äquivalent. Die Erde ist nicht nur von Myriaden von Gedankenkörnchen übersät, sondern auch von einer einheitlichen Denkhülle umgeben, die funktional ein umfassendes Gedankenkorn im kosmischen Maßstab bildet. Die Vielzahl individueller Gedanken gruppiert und verstärkt sich im Akt eines einmütigen Denkens.

Es steht außer Zweifel, dass die große Maschine der Menschheit geschaffen wurde, um zu handeln. Und sie muss handeln, indem sie eine Überfülle an Geist produziert. Wenn sie nicht funktioniert oder genauer gesagt lediglich Materie hervorbringt, hießt das, dass sie im Rückwärtsgang arbeitet.“ Pierre Teilhard de Chardin: „Le Phénomène Humain“ ("Der Mensch im Kosmos").


[27] Man denke an die Ankunft des Maschiach bei den Juden, des Messias bei den Christen, des Verborgenen Imams bei den Schiiten, den Punkt Omega bei T. De Chardin, die Auferstehung Nikolaj Fjodorows, die Allwelt Suchowo-Kobylins, die Universalmenschheit Dostojewskijs.


[28] Aus diesem Grund sind alle Projekte in der Art des Stalinismus oder Hitlerismus nicht lebensfähig und werden zurückgestoßen. Für die soziale Evolution sind sie allesamt Sackgassen.


[29] „Jeder, der von Kummer erlöst ist, stirbt früher, als der Tod eintritt.“ Koran.


[30] Das, dessen Zeugen wir sind, ist nicht einfach das Ende des Kalten Krieges oder einer weiteren Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher, die Vollendung der ideologischen Evolution der Menschheit und der Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Regierungsform. Francis Fukijama: „Das Ende der Geschichte?“.


[31] Apokalypsis, bei diesem Gericht wird der Mensch gerichtet, nicht aber die an seine Stelle tretende Menschheit.


[32] Siehe z.B.: Jelisarow, Jewgenij: „Mirowoj Rasum“.


[33] Tatsächlich fallen Vater und Sohn in einem Punkt zusammen. Es ist erstaunlich, wie alle Religionen recht behalten, indem jede etwas eigenes entdeckt.


[34] Als Agrarland erlebte Russland den drohenden Umbruch der gesamten Lebensweise besonders intensiv und träumte utopisch davon, dieses Stadium der Menschheitsgeschichte (den westlichen Weg) umgehen zu können. Hier hat die ewige Suche nach der „russischen Idee“, dem russischen Weg  ihren Ursprung, die bis zum heutigen Tag anhält, auch wenn wir gesehen haben, dass es diesen Weg nicht gibt.


[35] Tatsächlich haben die Museen heute große Probleme mit der modernen Kunst, die vor den Augen zerfällt und deren Restaurierung häufig teurer ist als die Werke selbst.


[36] „Warum den Spiegel schimpfen, wenn das Maul schief ist.“ Nikolaj Gogol.


[37] Hier ist ein Vergleich von Kunst und Wissenschaft interessant. Eine Bestätigung des Gedankens, dass sich Kunst und Wissenschaft immer parallel bewegt haben. Für den Menschen, der sich mit 30 Stundenkilometern bewegt hat, gab es Newtonsche Wissenschaft und Kunst, für den Menschen, der mehrere Tausend Stundenkilometer erreicht, Einsteinsche, und für den über vielfache Lichtgeschwindigkeit verfügenden Metamenschen wird es auch eine eigene Wissenschaft und „Kunst“ geben.


[38] Auch wenn natürlich guter menschlicher Kunst immer sowohl Gefühle und Gedanken eigen sind.


[39] Talmud, Traktat Avod.


[40] Nehmen wir das Gewissen. Dieses Programm im Gedankenfeld kann man sich als Vergleich der Gedanken eines einzelnen Menschen mit einem Eichmaß von Gedanken vorstellen. Wenn die Abweichungen eine bestimmte Größe erreichen, bekommt der Mensch eine Strafe in Form von Leiden. Die Gnade Gottes besteht darin, dass er selten sofort reagiert und dem Menschen Zeit zur Besserung gibt. Aufgeschobene Strafen sind eine der Stufen der Freiheit in unserer Welt.


[41] Die berühmten Worte aus dem Buch Ekklesiastikus: Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit,. und Sterben hat seine Zeit; ..


[42] Siehe ausführlich: Igor Ganikowskij: „Der Mensch als Antivirenprogramm“. 

Moralische Räume 2  
Igor Ganikowskij



 „Es war nie so, dass ich nicht existierte, oder du oder alle diese Könige. Und es wird niemals so sein, dass irgendwer von uns seine Existenz endet.“ (Bhagavad Gita 2.12)

„Es gibt in der künftigen Welt keinen Platz für die, die nicht jeden Tag das Finstere in Licht verwandeln, die nicht die Bitternis des Süßen fühlen.“ (Zogar, Prolog)

“… Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Matthäus 12,30)

"So wie unser Verstand, sobald er einmal zufällig die Perspektiven von Raum und Zeit entdeckt hat, diese nicht mehr loswerden kann, können auch unsere Lippen den einmal gekosteten Geschmack des universellen und stabilen Fortschritts nicht vergessen." (Teilhard de Chardin „Le Phénomène Humain“ 2 B.).

Auch die Antike starb, aber sie wusste nichts davon. Sie glaubte an ein ewiges Sein. Sie hat noch ihre letzten Tage mit rückhaltlosem Glück, jeden für sich, als Geschenk der Götter durchlebt. Wir kennen unsere Geschichte. [...]

Unsere Gabe ist die Gabe, unser unausweichliches Schicksal vorherzusehen. Wir werden bewusst sterben, und jedes Stadium unseres Verfalls mit dem scharfen Blick des erfahrenen Arztes begleiten." (Oswald Spengler: "Der Untergang des Abendlands".6)

1. Wenn plötzlich mitgeteilt würde...

Nehmen wir einmal an, im Fernsehen würde plötzlich verkündet, dass Gott existiere... Angesehene Wissenschaftler hätten dies zweifelsfrei nachgewiesen und unwiderlegbare Details von Experimenten angeführt. Was würde sich ändern? Ich denke, nicht viel. All jene, die schon immer geglaubt haben, würden dies auch weiterhin tun. Und die Atheisten würden diese Nachricht als neue wissenschaftliche Tatsache aufnehmen.

Vielleicht liegt dies daran, dass Gott (bzw. das Prinzip der Vernunft) in unserer Welt derart verborgen agiert, dass es den Leuten gar nicht in den Sinn kommt zu fragen, warum sie eigentlich leben und worin die Aufgabe des Menschen besteht bzw. ob es eine solche überhaupt gibt.

Natürlich lassen sich Antworten geben: Man muss das Leben lieben und nicht dessen Sinn; man muss die Einheit der gesamten Menschheit anstreben; die Wege des Herrn sind unergründlich; man muss Buddha werden; die Ahnen auferwecken oder den Tod besiegen; man muss Kinder aufziehen; Karriere machen; sich selbst erkennen; man muss eins werden mit Gott; den Punkt Omega erreichen oder einfach nur leben... Es ist zu sagen, dass alles Aufgezählte zutreffend ist.

Zitate aus der Bibel zu dieser Frage: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer...“ (1,28) oder „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (2,15).

Im Grunde genommen ist es schon verwunderlich, dass sich der Mensch für alles Mögliche interessiert - für Arbeit, Erfolg, Privatleben, Geschäft - aber keinerlei Eile zeigt, eine Antwort auf diese globale Frage zu finden. Als ob das Private wesentlich bedeutsamer als das Allgemeine sei. Noch darüber hinaus, stellen alle Religionen an die Stelle einer Antwort auf diese wichtige Frage eine Unzahl von Instruktionen, wie man zu leben habe. Eines aber bleibt völlig unverständlich: Man lehrt dich, was zu tun nötig ist, aber gleichzeitig sagt dir niemand warum und weshalb.[1] Das erinnert an das Leben eines zu lebenslänglicher Fließbandarbeit verurteilten Menschen, der weiß, dass er ein paar Schrauben anziehen muss, aber nicht weiß - und auch gar nicht wissen will - was für ein Objekt er da eigentlich zusammenmontiert.

2. Gefangene des dreidimensionalen Raums

Unsere Welt wurde derart erschaffen, dass wir im dreidimensionalen Raum gefangen sind. Natürlich können wir uns in der Theorie sowohl über vier- oder sechsdimensionale Welten als auch über eine eindimensionale Welt Gedanken machen, aber uns diese mit Hilfe unserer Sinne vorzustellen,[2] sind wir ebensowenig in der Lage wie in diesen zu leben. So sind wir konstruiert. Tatsächlich sind alle diese Welten höher oder niederer als unser Verstand und lassen sich nur in Gedanken zu einem Ganzen zusammenziehen. Zugleich ist aber logisch anzunehmen, dass über und unter unserer Welt andere Welten existieren. Man kann sich die Große Welt als Räume vorstellen, die sich nach bestimmten Gesetzen vereinen bzw. trennen und über ein jeweils eigenes "Vernunftsniveau" verfügen.[3]

3. Ziel der Vernunft

Die praktische Tätigkeit eines vernunftbegabten Wesens ist, sofern dieses über begrenzte Ressourcen verfügt, immer darauf ausgerichtet, seine Umwelt zu vervollkommnen und umzuformen, sich an diese anzupassen und sie zugleich den eigenen Bedürfnissen zu unterwerfen. Für den Menschen ist die Befreiung von physischen und seelischen Leiden, der Sieg über den Tod ebendas, was ihn zu denken und schaffen zwingt. Physische Leiden bzw. Unannehmlichkeiten treiben ihn auf den Weg des technischen Fortschritts, seelische Leiden drängen ihn zur Erhaltung der Art.

Wenn man sich den Weg unserer Welt als Kreislinie vorstellt, an deren höchstem Punkt ihre Entstehung stattgefunden hat (der große Knall, den die Wissenschaft heute annimmt[4]) und dann einen anderen, etwas weiter rechts gelegenen Punkt auf dieser Krieslinie nimmt, dann wird klar, dass man sich zum Punkt der Singularität, zum Punkt der Entstehung, zu dem Punkt, an dem die gesamte potentielle Information über unsere Welt enthalten ist, auf zwei entgegengesetzen Wegen bewegen kann - mit und gegen den Uhrzeigersinn.

Wenn nun aber die Menschheit verstehen kann, was im Punkt der Singularität eigentlich vorgegangen ist, dann kann sie den ganzen Lauf der Dinge neu reproduzieren und wird zum realen Herren der Welt, in der sie existiert.

Die Bewegung gegen den Uhrzeigersinn wird in unterschiedlichem Maße durch die verschiedenen Religionen repräsentiert. Es handelt sich um den Weg des Glaubens. Die ideale und radikalste Variante dieses Wegs ist der Weg des Buddhismus (nennen wir ihn der Einfachheit halber den östlichen Weg). Es handelt sich dabei um eine Absage an die dem Menschen auferlegte Welt, um den mentalen Übertritt in eine Welt ohne Divergenzen und Leiden, ohne Ursachen und Folgen, um die Verschmelzung mit bzw. die Auflösung in einer höheren Welt und somit die individuelle Rettung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara).

Der Osten hat verstanden bzw. das Wissen um die Tatsache empfangen, dass alle Probleme des Menschen in diesem selbst und nicht in seiner Umwelt angesiedelt sind, die er als Trugbild ansieht.

Im Gegensatz dazu steht die Bewegung mit dem Uhrzeigersinn – die von der westlichen Welt[5] gewählte Variante der Rettung. Es handelt sich dabei um den Weg der Erkenntnis (nennen wir ihn den Weg der westlichen Zivilisation). Dieser Weg wird durch das Judentum als anderem religiösen Extrempol[6] und durch dieses auch durch das Christentum, den Islam sowie den Atheismus repräsentiert und vertritt heute die Mehrheit der Menschheit.

Er weist einen Weg innerhalb der Welt der Divergenzen, Gegensätze und Kausalbeziehungen, innerhalb der Welt von Gut und Böse. 

Dieser Weg ist lang, denn man muss die gesamte Kreislinie durchlaufen, um von der anderen Seite zum Punkt der Entstehung zu gelangen. Und wenn dies tatsächlich der dem Menschen vorherbestimmte Weg ist, dann kann der Mensch erst, wenn er diesen Punkt erreicht hat und bereits über alles Wissen dieser Welt verfügt, die Welt und sich in ihr besiegen. Und von diesem Moment an gewinnt die Menschheit eine andere Qualität, einen anderen Raum, eine andere Zeit, eine andere Erde.

Offensichtlich ist eben dieser zweite Weg, der mit materiellem Fortschritt einhergehende Weg der Zivilisation, der peinvollste und blutigste Weg, für die Menschheit vorherbestimmt.

Natürlich kann man sagen, dass Judentum, Christentum und Islam ebenso wie der Buddhismus… Wege lehren, Rettung auf kürzeren und schmerzfreieren Wegen zu erlangen. Natürlich wäre dies so, wenn der Mensch diese Lehren mit seinem ganzen Herzen annähme und sein Glaube absolut wäre.

Aber die Schwierigkeit und Tragik besteht darin, dass der Mensch gezwungen wird, mit dem zu kämpfen, was tief in ihm drin ist, als ob er sich an den eigenen Haaren herausziehen müsse.

Dieses Wunder aber gelingt nur einigen wenigen, absolut Glaubenden. Für die Mehrheit behält das Menschliche die Oberhand.

Dass sich der von den Religionen gewiesene Weg als nicht erfolgreich erweist (er wird nur von einzelnen realisiert), hat zahlreiche Gründe, insbesondere aber die Verzerrungen, die sich durch die Anpassung der dem Menschen überlieferten Offenbarungen an die weltlichen Bedürfnisse ergeben.

Es bleibt also nur die andere Variante: die Bewegung auf dem Weg der Zivilisation, die Umarbeitung der gesamten Welt, einzig und allein mit dem Ziel, sich schließlich selbst zu verändern (was auch die unterschiedlichen Konfessionen anbieten) und dadurch die Leiden und den Tod selbst zu besiegen.

Und die höchste Vernunft bzw. Gott drängt den Menschen just auf diesen Weg.

 Hier ist es wichtig, daran zu denken, dass alle Religionen von einer individuellen Rettung sprechen. Aber der Weg der Zivilisation kann Anspruch auf die Rettung aller erheben, was einen der Gründe dafür darstellt, dass er gewählt wurde.

4. Der westliche Weg

Bei der Betrachtung komplizierter Prozesse ist  die Wahl des Koordinatensystems, die Ausrichtung des Blicks von herausragender Bedeutung. Ich möchte mich auf lediglich zwei Parameter beschränken – Einheit und Unterschiede. Diese sind von solcher Wichtigkeit, dass sie den Aufbau großer Systeme erlauben, ohne sich in Details zu verlieren. In einer Welt der Einheit[7], wie im Buddhismus, ist alles einfach und genial. Es gibt keinen direkten Kontakt mit der Welt und keine Leiden. In der Welt der Divergenzen ist alles komplizierter. Im folgenden werden wir eben diesen Weg betrachten.

Unsere Welt ist nach bestimmten Gesetzen geschaffen, die eins nach dem anderen von der Menschheit offengelegt werden. Diese Gesetze sind ständig anwesend; das spricht für das Vorhandensein von Vernunft in der Welt.

Unsere Welt wurde (nach dem westlichen Szenario) von der Höheren Vernunft bzw. Gott von Anfang an als Welt der Divergenzen und Kausalbeziehungen geschaffen (d.h. dass die Zeit in unserer Welt nur in eine Richtung fließen kann). Eine Bestätigung hierfür finden wir im ersten Buch der Bibel, wo Gott Licht und Finsternis, Land und Wasser, Tag und Nacht teilt... Hier werden die Einteilungen auf physischer Ebene beschrieben. Gleiches geschieht auch auf der Stufe des Menschen durch die Schaffung von Mann und Frau.

Es folgt die Geschichte vom Garten Eden bzw. dem Paradies, in der scheinbar von einer Wahl die Rede ist, mit der der Mensch nicht zurechtkommt. Erinnern wir uns an die Bibel: „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“ (2, 8-9). „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du von ihm issest, musst du des Todes sterben.“ (2, 15-17)

An dieser Stelle ist auf die oft übersehene Tatsache hinzuweisen, dass dem Menschen keineswegs verboten war, vom Baum des Lebens zu essen. Und auch der Grund dafür ist klar, denn er verfügte im Garten Eden ohnehin über Unsterblichkeit. In der Welt der Einheit gibt es keinen Tod. Es war ihm verboten, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, da dieses Wissen faktisch das Wissen um die geteilte Welt ist. Kaum aber hatte er dieses Wissen in sich aufgenommen (buchstäblich gegessen), wurde er aus dem Paradies – also der Welt ohne Divergenzen - in eine Welt vertrieben, in der Schwarz und Weiß existieren. Denn es sind ja gerade die Unterschiede[8], die Vergleichsmöglichkeiten, die den Menschen zwingen zu agieren. Gibt es keine Vergleiche, gibt es auch keine Wünsche, und entsprechend (wie bei den Buddhisten) auch kein Agieren. Es ist  das Resultat einer großen Summe praktizierter Egoismen, das die Welt in Bewegung hält.

Andererseits aber ist die Menschheit schon längst zu der Erkenntnis gelangt, dass gerade die Polarität den Menschen leiden lässt. Es ergibt sich also der folgende Widerspruch: Einerseits brauchen wir, um in unserer Welt zu leben, die Unterschiede, aber andererseits vergiften just diese Unterschiede unser Leben.

In der Geschichte Kains wird die Einteilung bzw. Verurteilung bereits auf der Erde endgültig Gesetz. Nach der Geburt der ersten Menschen, Kain und Abel, vollzieht sich ein Ereignis, das wie eine Sprungfeder das gesamte menschliche Leben (die Geschichte nach dem westlichen Weg) aufzieht. Gott nimmt die Gaben Abels an, und weist die Gaben Kains zurück. Und nach der Ermordung Abels tötet Gott Kain nicht, sondern handelt anders: „Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“. (4,15) Das heißt, dass Gott selbst erneut eine Einteilung einführt. Der Mensch wird bereits endgültig aus der Welt der Einheit (Eden) in eine Welt der Polaritäten versetzt bzw. versetzt sich selbst dorthin. Noch darüber hinaus verfestigen sich die Einteilungen und Polaritäten in der irdischen Welt und bilden die ihr eigenen ontologischen Elemente. Polaritäten bzw. Unterschiede werden zu jenen Triebfedern (Egoismus, Individualisierung, Ehrgeiz, Neid, Gier nach dem Besitz des anderen), durch die unsere Welt aufsteigt, die der Welt ihre Dynamik geben, den Wunsch zur Bewegung antreiben, die aber auf der anderen Seite schon seit Tausenden Jahren der Menschheit keine Ruhe geben und sie immer weiteranstacheln.

 Offensichtlich ist das Denken, dessen Fundament auf der Polarität der Welt und strengen Kausalbeziehungen fußende Modelle sind, nicht mit den im Vergleich zu uns höheren Welten vereinbar. 

Zusammen mit dieser Welt hat der Mensch auch bekommen, was in diesem „Paket“ enthalten ist und ohne das diese Welt nicht existieren kann: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ (3, 16,17) Vor allem aber erhielt er den Tod.

Es gibt also möglicherweise prinzipiell zwei Wege (und eine unendliche Zahl andere, in der Mitte zwischen diesen beiden liegende Wege), um die Ambitionen unserer Vernunft zu erfüllen und uns von Tod und Leiden zu erlösen: den östlichen und den westlichen Weg. Der erste Weg ist mit einer Änderung des Ichs verbunden, mit einer Neuprogrammierung des eigenen Bewusstseins. Der zweite Weg führt zu den gleichen Zielen, aber dafür muss zugleich auch die ganze Welt geändert werden. Ohne Einteilung in Schwarz und Weiß ist dieser Weg, der Weg der zivilisatorischen Entwicklung schlicht unmöglich. Davon handeln die Geschichte Kains und alle anderen biblischen Geschichten – Geschichten über das Leben in der Welt der Polaritäten.

Wahrscheinlich lässt sich sagen, dass die Unterschiede im Denken auch unterschiedliche Welten hervorbringen. Wenn wir die Welt in den Koordinaten der Polarität denken, erhalten wir unsere allen bekannte Welt mit Leiden und Tod. In der Welt der Einheit hat es keinen Sinn, an den Tod zu denken. Dort stirbt niemand, sondern er ändert nur seine Erscheinung. Eines geht ins andere über. 

5. Mensch und Menschheit

Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass in dem vorgeschlagenen Modell die Welt der Divergenzen und die Welt der Gemeinsamkeiten zwei absolut unterschiedliche Projekte darstellen.

In der Welt der Divergenzen, also in unserer Welt[9], entspricht jeder Eigenschaft eine ihr entgegengesetzte Eigenschaft. Jede dieser Eigenschaften ist für die Welt nötig, die andernfalls schlicht nicht existieren würde.

Man kann dazu auf Hegels Denkansatz von These und Antithese mit anschließender Snythese verweisen.Am Anfang stehen aber nichtsdestotrotz gerade die Unterschiede. Eben dieses Schema liegt allen unseren logischen Modellen zugrunde.

Mit zunehmender Unikalität vergrößert die Menschheit als Spezies ihre Flexibilität und Überlebensfähigkeit. Gerade Unikalität und Unterscheidung von anderen beschleunigen den „Fortschritt“, der nur durch die Entfachung immer neuer Wünsche, Verführungen, Konkurrenz angetrieben wird. Was ist eine Verführung anderes als der Motor dieser Welt, die Möglichkeit zu bekommen, was man nicht hat.

Andererseits aber nehmen Divergenz und Entfremdung zu, das Verbindende schwindet.

Wenn man sich die vergleichsweise lange Geschichte der Menschheit und gleichzeitig die immer größere Zahl der Menschen vorstellt, muss das Anwachsen der Unikalität zum Zerfall der gesamten menschlichen Gemeinschaft führen. Dabei nimmt mit der Zeit das Trennende zwischen den Leuten immer mehr zu. Wieviel Gemeinsamkeiten lassen sich z.B. zwischen einem amerikanischen Computerfachmann und einem armen Einwohner Afrikas finden. Noch darüber hinaus wächst auch das Trennende zwischen den Generationen. Die älteren Generationen kommen schon nicht mehr mit der jungen Generation mit. Der ewige Generationenkonflikt wird sich noch weiter vertiefen.[10] Und das einzige, was diese Aufspaltung für den westlichen Weg stoppen kann, ist der Tod.

Andererseits ließe sich der Mensch technisch wahrscheinlich schon deshalb nicht unsterblich machen, weil sich kaum vorstellen lässt, wie sein Kopf aussehen müsste, um die ganze in Dutzend Millionen Jahren erhaltene Information zu enthalten. Sein Arbeitsspeicher müsste eine unvorstellbare Größe haben. Die Informationsweitergabe wurde nach dem Konstruktionsprinzip sich abtrennender Stufen heutiger Langstreckenraketen konstruiert. Der Tod spielt dabei die Rolle eines Übergangs zwischen den Stufen, indem er immer neue, frische Generationen ins Leben bringt, ohne dabei das Äußere des Menschen zu ändern. Der Mensch wurde folglich so projektiert, dass sein ewig mit sich geführter „Computer“ für die Ausführung seiner Mission ausreichend sein müsste.

Erstaunlicherweise ist es gerade der Tod, der die Menschheit zusammenhält und sie zwingt, ihre Umwelt in einem bestimmten Tempo umzugestalten. Individuelle Unsterblichkeit hätte zur Folge, dass die Menschheit als Art aussterben würde, bevor sie die gesamte ihr vorbestimmte Arbeit vollbracht hätte. Die Welt der Divergenzen ist an den sterblichen Menschen angepasst bzw. der sterbliche Mensch ist der Welt der Divergenzen eigen.

Es läuft also darauf hinaus, dass unsere Welt ohne den Tod nicht funktionieren kann. Rufen wir uns die Worte Gottes in Erinnerung: «Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du von ihm issest, musst du des Todes sterben.“ Anders gesagt ist der Tod Teil des „Pakets“ unserer Welt.

Ich denke, dass die folgende Schlussfolgerung richtig ist: Auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Menschen ist der individuelle Tod unerlässlich. Unerlässlich deshalb, weil er den Tod der gesamten Menschheit als Art verhindert.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Kreis? Wie lassen sich Ängste, Krankheiten, Leiden, Tod besiegen, wenn all dies für das Überleben der Menschheit notwendig ist?

Es gibt einen Ausweg, und zwar nur diesen einen – eine Vergrößerung der Einheit. 

Schon mehrfach wurde in diesem Text die Formulierung „auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Menschen“ gebraucht. Was ist damit gemeint? Die Sache ist die, dass die Menschheit vor etwa 300 Jahren den Weg einer intensiven Entwicklung eingeschlagen hat.[11] Was in dieser Zeit entdeckt und für die Veränderung des Lebens getan wurde, ist um ein Vielfaches größer als das, was in den vorangegangenen Millionen Jahren gemacht wurde. Und das Tempo wird noch deutlich zunehmen, da sich die künstliche Evolution als deutlich effektiver erweist als die natürliche, biologische. Die Entwicklung verläuft exponentiell. Die Menschheit ist an eine sehr wichtige Grenze getreten. Sie ist in den Kosmos gelangt, beginnt sich zu dublieren und sich äußerlich und innerlich umzuformen. Sie steht an der Schwelle zur Schaffung künstlicher Zellen, eines künstlichen Intellekts, von Superrobotern, modelliert Leben...

Das heißt, dass sich der Mensch bereits an den Punkt der Singularität annähert. Er ist schon in Sichtweite. Und auch dies verleiht der Entwicklung ein nie dagewesenes Tempo.[12] Heutzutage scheint die Idee, dass der Mensch seinesgleichen reproduzieren und sogar sich selbst verändern kann, nicht mehr als Utopie.[13] Der Mensch verändert sich bereits künstlich, implantiert Knochen und innere Organe. Im Hirn werden Chips eingepflanzt, die für Sehen und Hören verantwortlich sind. Der Mensch kann Computer allein durch seine Gedanken steuern. die unsere Welt vollkommen auf den Kopf stellen. Und wahrscheinlich wird sich dies alles in den kommenden 200 bis 300 Jahren vollziehen. Und dabei bin ich weniger optimistisch als die Amerikaner in Silicon Valley.[14]

6. Der sehnlichste Wunsch- Einigkeit.

Dem hier Betrachteten liegt der Faktor der Einheit zugrunde. Und ich möchte behaupten, dass sich die Ziele der Menschheit wie der Sieg über die Leiden und die Überwindung des Todes ohne eine allgemeine Vereinigung nicht realisieren lassen. Wenn wir den Faktor Einheit in seiner historischen Entwicklung betrachten, stellen wir fest, dass die Einheit seit dem Anfang der Zeiten, beginnend mit Adam, ständig kleiner geworden ist. Die Unterschiede sind gewachsen. Tatsächlich war am Anfang Adam, dann Adam und Eva, dann deren Kinder und Kindeskinder... Nach den Gesetzen der Biologie, die nicht von uns gemacht wurden, entstehen Leute, die sich nicht ähnlich sind. Die Unterschiede werden größer. Es entstehen ganze Zweige der Menschheit, deren Wege nebeneinanderherlaufen oder sich kreuzen und sich dann in verschiedene Richtungen entwickeln, die im Kreis laufen oder sich in Spiralen winden. Es bilden sich Gemeinschaften, Staaten, riesige Imperien. Dann bricht alles auseinander und wird in anderer Form wiederaufgebaut. Wie bei einem Kaleidoskop sieht man immer ein anderes Bild. Aber bei all dem herrschte bis in die letzte Zeit eine Tendenz zur Zunahme der Unterschiede vor, weil dies notwendig war. Ebendies verlieh der Welt Dynamik und beschleunigte sie. Diese Strategie entspricht der Evolutionstheorie, der Expansion des lebenden Organismus.

Aber es scheint, dass sich diese Tendenz buchstäblich vor unseren Augen in ihr Gegenteil kehrt. Und es sieht so aus, als habe diese Wende just zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt, des Jahrhunderts der sozialen Revolutionen, des Terrors, des Zweiten Weltkriegs, des blutigsten Abschlachtens des Menschen durch den Menschen. D.h. dass die Kurve der Einheit, beginnend mit Adam Millionen Jahre nach unten lief.[15] Die Vielfalt nahm zu. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kann sie – vielleicht in 300 Jahren - erneut das Niveau des ersten Menschen erreichen. Wir leben in einer Phase des Umbruchs und machen uns zu wenig bewusst, dass die ganze Lebensstrategie in ihr Gegenteil gekehrt werden kann. Während früher das Individuelle, Unikale geschätzt wurde, kommt heute das Gesellschaftliche, Kollektive. Welche Faktoren sprechen bereits jetzt für diese These? Was lässt sich bereits heute sehen? Es gibt viele Faktoren, und sie sind offensichtlich.

Die Grenzen der Staaten haben sich etabliert, stabilisiert. Wenn wir jetzt durch das Kaleidoskop gucken, sehen wir im wesentlichen ein Bild. Noch darüber hinaus hat eine Vereinigung begonnen, für die das vereinigte Europa das beste Beispiel darstellt. Dabei hat sich diese Vereinigung nach anderen Prinzipien vollzogen als früher, nicht unter dem Stiefel eines Monarchen, Zaren oder Diktators. Es wurden Mechanismen eingeführt, die gewaltsame Machtteilungen oder –ergreifungen blockieren, internationale Organisationen [16]gegründet wie z.B. die Uno, Friedensmissionen, Interpol, das Internationale Kriegsverbrechertribunal, Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen... Globalisierung und allgemeine Standardisierung gewinnen an Tempo. Die forcierte Entwicklung der modernen Transport- und Kommunikationswege, vor allem des Internets – all dies verbindet die Menschen eher als dass es sie trennt, wobei es sehr wichtig ist, dass die Ähnlichkeiten auch auf mentaler Ebene stärker werden. Selbst die Kirchen, die zu den konservativsten Institutionen des Menschen gehören, fangen an, sich einander zu nähern (gemeinsame Gottesdienste).[17]

Vielen Leuten gefällt dies nicht, und man kann sie verstehen. Sie wollen nicht ihr Gesicht, nicht ihre Individualität verlieren. Aber das Programm arbeitet, und man muss sich ihm unterwerfen.

7. Vereinigung und Vermischung

Versuchen wir, uns genauer anzuschauen, was heute die allgemeine Bewegung zur Vereinigung fördert.

Auf der Hand liegt eine höhere Lebenserwartung in den entwickelten Ländern, bei gleichzeitig sinkender Geburtenrate. Natürlich wird sich diese Entwicklung fortsetzen und auch auf andere Länder übergreifen. Die Alten werden länger leben und es wird mehr von ihnen geben. Der Anteil der Älteren an der Gesellschaft steigt, und damit verbunden ist eine höhere Stabilität und Toleranz der Gesellschaft. Ältere Leute sind weniger aggressiv. Sie haben in ihrem Leben schon viel gesehen und neigen in geringerem Maße zu Konflikten. Vielleicht werden die Leute schon bald mit 100 Jahren in Rente gehen (in Europa nähern wir uns schon einem Rentenalter von 70 Jahren). Dies führt dazu, Einwohner aus rückständigen Regionen in die ökonomisch entwickelten Länder einzuladen. Die intensive Vermischung der Bevölkerung wird noch weiter zunehmen. Allgemein werden heutzutage in diesen Prozess der totalen Homogenisierung der Gesellschaft nicht nur Rassen, Nationalitäten und Religionen einbezogen, sondern auch Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung, die gesamte Menschheit. Wir sehen, dass Vereinigung und Vermischung zu den wichtigsten Prozessen unseres Lebens werden. Es gab sie natürlich immer (Amerika, Russland, allgemein in allen großen Imperien), aber erst jetzt nehmen sie globale Züge an und beschleunigen sich. Hierzu trägt auch die Etablierung der liberalen Demokratie in den ökonomisch führenden Ländern bei, die diesen Prozess postuliert und fördert.

Allgemein haben unterschiedliche Faktoren eine unterschiedliche Dynamik in der Zeit.

Die Tendenz zur Steigerung der Lebenserwartung z.B. lässt sich als allgemein verzögerte Vorwärtsbewegung interpretieren, d.h. die Menschheit hat eine solche Geschwindigkeit und eine solche Stufen des Trennenden erreicht, dass sie offensichtlich aus Trägheit ihr Ziel erreichen kann. Andererseits braucht die Menschheit heute tatsächlich eine große Stabilität. Wir sind an eine Grenze gelangt, wo eine einzige falsche Entscheidung alle in eine Katastrophe reißen kann. Die Zeiten sind vorbei, wo 20-30-jährige Generäle sich mit Säbeln schlagen und Kriege führen, Territorien nach ihrem Geschmack umgestalten konnten. Damals war dem Menschen mehr Freiheit gegeben, heute weniger.

8. Einheit innerhalb der Unterschiede

Tatsächlich befindet sich Einheit immer innerhalb der Unterschiede und bildet deren Gerüst[18]: In den Beziehungen zwischen den Menschen gibt es nur drei schablonenhafte Verhaltensmuster: Wohlgesonnenheit, Feindschaft und Neutralität. Gleichzeitig aber gibt es Millionen Nuancen. Nehmen wir die Mode. In der gesamten Zeit seiner Existenz hat der Mensch Millionen von Kleidungsvarianten geschaffen, aber im großen und ganzen liegen der Kleidung immer Mütze, Schal, Kleid, Hose, Strümpfe, Schuhe und Gürtel zugrunde, die sich kombinieren lassen. Sieben Grundelemente, und Hunderte von Millionen mögliche Kombinationen. Und so ist es in allen Bereichen.

Diese riesige Vielfalt an Varianten schafft die Illusion von Kompliziertheit und Unerschöpflichkeit des Lebens, obwohl dem oft völlig einfache Kategorien zugrundeliegen. Bei der Tendenz zur Vereinigung fällt deshalb die ganze „Kompliziertheit“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie wird eigentlich nicht gebraucht und ist nur als Illusion nötig.

In der Welt der Unterschiede wird nur das Neue geschätzt, das Individuelle. Aber prinzipiell Neues ist nicht unendlich verfügbar. Ein einfaches Telefon und ein mit Brillanten besetztes, hundertausendmal teureres Telefon bleiben beide ein Telefon. Und dass das zweite existiert, zeugt nur von einer tiefen Krise der Welt der Angst und des Konsums, von dessen Dekadenz und Verfall. Diese Welt hat den Höhepunkt der Unterschiede in unserer Zeit erreicht und wird wohl zügig zerstört werden.

Natürlich hat die liberale Demokratie wie jede andere Gesellschaftsform der Welt viel gegeben, aber längst nicht alles, was sich der Mensch von ihr erhofft hat. Warme Toiletten reichen nicht aus. Gebraucht wird richtiges Glück ohne Schmerz, Leiden und Tod. Der Mensch ist reicher, aber nicht glücklicher geworden.

Wir reden hier von Prozessen, die bereits heute begonnen haben und in Zukunft nur anwachsen werden wie eine Lawine, die unser Leben äußerlich und innerlich verändert. Auch wenn man heute fast sicher sein kann, dass hinter 90% aller Ereignisse in der Welt des Menschen nur Geld als Hauptäquivalent des Lebens steht, (natürlich verdeckt und hinter Masken verborgen), ist doch das Streben nach Vereinigung für die Menschheit die Hauptsache.

 Es ist eine Zeit angebrochen, in der sich intensiv eine Sphäre herausbildet, in der sich die Idee der Einheit realisiert. Es wird zur politischen, ökonomischen, kulturellen und sprachlichen Vereinigung kommen, staatsübergreifende Parteien werden gegründet werden (was teilweise in Europa schon Realität ist), eine allgemeine Kirche wird entstehen, staatsübergreifende und von der gesamten Menschheit getragene Initiativen sind auf dem Vormarsch...

9. Metamensch. Moralischer Raum.

Während das vom Menschen geschaffene künstliche Leben früher über Jahrtausende hinweg keinerlei Einfluss auf das innere Leben des Menschen selbst hatte, ist heute eine Zeit der völligen Umgestaltung der menschlichen Persönlichkeit und seiner jahrhundertealten Lebensgewohnheiten angebrochen. Einerseits entreißt der Mensch Gott bzw. der höheren Vernunft eine Position nach der anderen, indem er die ihm von diesem gegebenen Mechanismen nutzt. Das hat er natürlich schon immer getan, aber heutzutage geht es dabei um Kategorien, die das Menschliche an sich enthalten.

Andererseits wird der Mensch Gott immer ähnlicher, indem er sich dessen Attribute aneignet. Es lassen sich also zwei Prozesse beobachten, die allerdings im Kern auf das Gleiche hinauslaufen: Die Zerstörung des Menschlichen und die Annäherung an das Göttliche.

Schon heute braucht eine Frau keinen Mann, um ein Kind auf die Welt zu bringen.[19] Sie kann ohne Schmerzen gebären und ist vollkommen frei von männlicher Vormundschaft. Aber erinnern wir uns an die Worte Gottes: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. 

Und all dies ist nur der Anfang. Der neue Mensch oder besser: der Metamensch[20] wird weder Frau noch Mann brauchen, um sich zu reproduzieren. Dadurch fällt noch ein globaler Punkt weg, nach dem die Teilung der Menschheit verlief. Und das ist bereits Realität und keine Phantasie.

In der Bibel sagt Gott zu Adam: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ (3,17) Schauen wir, was passieren wird, wenn der Mensch sich von dieser Verwünschung befreien kann. Das ist im Prinzip die nächste Perspektive, ohne die nichts weiter passieren kann. Zuerst erhält der Mensch, wie uns Wissenschaftler versprechen, Zugang zu niemals versiegender Energie, dann im Überfluß, was wiederum ein Zeitalter der materiellen Gleichheit aller Menschen einläuten wird, den ersten großen Akt der Gleichmachung aller. Natürlich kann sich der Mensch, da er nie in einer Gesellschaft des Überflusses gelebt hat, nicht wirklich vorstellen, was Überfluss für alle eigentlich ist. Das wird keine Gesellschaft sein, in der alle in einheitlichen Feldröcken marschieren und Andersdenkende mit Hacken erschlagen, sondern eine Gesellschaft, in der jeder haben kann, was auch jeder beliebige Andere hat.

Dann werden sich die Menschen an die Idee des Kommunismus erinnern. Der Mensch hat schon oft versucht, alle gleich zu machen, aber bis zum heutigen Tag hat sich dies als unmöglich erwiesen. Selbst das größte Experiment, der Sozialismus, ist gescheitert. Und er ist keineswegs deshalb gescheitert, weil irgendetwas falschgemacht wurde (was natürlich auch der Fall war), sondern deshalb, weil die Zeit für diese Idee noch nicht reif war.[21] Weil Gleichheit auf der gegebenen Entwicklungsstufe der Menschheit prinzipiell ausgeschlossen war. Der Kommunismus konnte zu seiner Zeit gar nicht verwirklicht werden und war nichts anderes als ein Projekt unverantwortlicher Hasardeure. Alles wurde durcheinandergebracht, auf den Kopf gestellt. Die Leute wurden gezwungen, eine auf Gleichheit beruhende Gesellschaft in einem Land zu errichten, in dem völlige Armut und völlige innere und äußere Ungleichheit herrschte, während man eigentlich das völlige Gegenteil hätte machen müssen: allgemeinen Überfluss erlangen, Und erst anschließend hätte man mit dem Aufbau des Kommunismus beginnen können.

Tatsächlich muss man ein Mensch sein, um die göttliche Idee der Gleichheit in solcher Art zu pervertieren. Denn Einheit ist eines Seiner grundlegenden Attribute.

„Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm. Wo bist du?“ (3,9)

Wovon ist hier die Rede, vielleicht von der Funktion einer Kontrolle? Schauen wir, was heute in diesem Bereich passiert. Natürlich nimmt mit dem technologischen Fortschritt auch die Beobachtung des Menschen über den Menschen zu. Wir sind von Videokameras umgeben, deren Zahl immer größer wird. In unsere neuen Pässe sind Angaben über unsere besonderen Kennzeichen (Fingerabdrücke, Netzhautparameter) eingelesen. In einigen Ländern werden Chips schon unter die Haut gepflanzt. Im Computer sind unzählige Daten über uns gespeichert, die nicht nur mit unserem Äußeren zu tun haben, sondern über Geschmack, Leidenschaften, Bekannte, Lieblingsgeschäfte, Lieblingskleidung, Hobbys usw. Auskunft geben. Zu ergänzen sind noch die Durchsicht von Briefen und E-Mails, das Abhören von Telefonen. Ganze Industriezweige arbeiten an der Perfektionierung des Ausspionierens.

 Heute wird die Verschärfung der Kontrolle durch den Kampf gegen den Terrorismus legitimiert, morgen durch etwas anderes. Natürlich wirkt das zuweilen lächerlich: schließlich werden Terroristen kaum Kommunikationsmittel nutzen, von denen jeder weiß, dass sie kontrolliert werden. Erschwert wird die Sache noch dadurch, dass Terroristen nicht nur Menschen anderer Nationalität sein können, sondern auch die eigenen, unter schlechten Einfluss geratenen Landsleute. Wenn man logisch in diese Richtung weiterdenkt, lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass das beste Kontrollinstrument sein wird, die Gedanken des einzelnen Menschen zu kontrollieren. Und das ist keine ferne Zukunft. Neue Technologien werden auch dahin führen.

 Das Entscheidende in diesem Zusammenhang ist, dass der Mensch selbst (bzw. die Menschheit) künstlich einen Raum konstruiert bzw. ein Programm schafft, das ihn behütet. Damit aber tut er nichts anderes, als sich die wichtigste Funktion Gottes bzw. der höheren Vernunft anzueignen. 

Der Mensch erschafft sich durch die Menschheit seinen Raum, und dieser Raum muss ein moralischer sein, da seinem Schöpfer (dem Menschen) im gegenteiligen Fall der Tod drohen würde.

Wenn wir z.B. am Steuer eines Autos die Geschwindigkeit überschreiten, bekommen wir eine Strafe. Eine an einem bestimmten Punkt des Raums installierte Fotokamera hat den Vorgang fixiert.

Diese niemals schlafenden Augen, Ohren, Nasen, Münder und Hände beobachten uns pausenlos.[22] Wir haben ihnen selbst das Recht übertragen, auf uns aufzupassen und uns auszuspionieren. Wir haben alles der Menschheit übertragen, die mit unserer eigenen Hilfe einen Raum totaler Überwachung organisiert. Und dieser auf der Basis der Moral aufgebaute Raum wird uns in Zukunft vollständig umgeben. Dieser heutige, menschliche, künstliche Raum ist nur eine klägliche Kopie jenes Raumes, in dem wir alle uns schon lange befinden, aber er ist nach dem Ebenbild des großen Raums aufgebaut.

Der von der höheren Vernunft bzw. Gott konstruierte moralische Raum ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, nach dem auch wir unseren Raum der Überwachung bauen. Wenn der Mensch die Regeln des Zusammenlebens verletzt, die Gesetze dieses Raums, bekommt er ebenfalls eine Strafe. Physische und moralische Leiden sind eben jene Strafen in unserem Leben.[23] Ebendiese zwingen den Menschen, Einkehr zu halten und anschließend hinter sich aufzuräumen, für sein Verhalten Sühne zu leisten. Was wir in die Welt senden (zuerst immer in Gedanken), fällt auf uns zurück und verändert uns schließlich. Deshalb verursachen selbst schlechte Gedanken dem umgebenden Raum Schaden.

Und wo befinden sich die Kameras und Sensoren, die auf den Menschen aufpassen? Natürlich ist es am einfachsten, sie im Menschen selbst anzulegen. Erinnern wir uns an Immanuel Kant: Der Sternenhimmel über uns und das moralische Gesetz in uns. Wohin der Mensch auch aufbricht, ob er zu anderen Planeten fliegt oder in eine tiefe Grube einfährt, die Beobachtung bleibt unveränderlich bestehen. Denn vor sich selbst kann man nicht weglaufen..

Aber die moralischen Räume existieren nicht nur für den einzelnen Menschen. Sie umgeben ganze Völker, Länder[24], die Menschheit. Und man möchte glauben, dass gerade dieser Mechanismus die Menschheit vor Selbstmord oder

Vernichtung von außen bewahrt.

Wenn der Mensch eine chemische Reaktion durchführt und genau weiß, was im Resultat passieren wird, interessiert er sich dann für das Verhalten einzelner Atome? Ob die höhere Vernunft, die den moralischen Raum um den Menschen und die Menschheit geschaffen hat, persönlich reagieren soll, oder eine automatische Antwort des Raums vollkommen ausreichend ist, wissen wir nicht. Der Metamensch/ Gott liegt jenseits unseres Denkens, er befindet sich in einer Welt einer anderen Vernunftebene. Deshalb steht jedem frei, sich vorzustellen, was er will. Das Resultat wird ohnehin ein und das gleiche sein. Lohnt es, sich deshalb gegenseitig umzubringen?

10. In Erwartung des Bardo[25]

Das Gesagte lässt sich auch anders interpretieren. Der Mensch übergibt der Menschheit, scheinbar aus eigenem Willen, eins nach dem anderen alle seine Rechte. Natürlich hat er das schon immer gemacht und macht es das ganze Leben. Und es bleibt schon kein Recht mehr, das sich die Menschheit nicht aneignen würde. Wenn schließlich auch der persönliche Bereich des Bürgers einschließlich der Gedanken einzelner Menschen in die Kontrolle der Menschheit übergeht, erweisen wir uns als direkte Anhängsel der Gesellschaft.

Ob man dies nun begrüßt oder bedauert: Die totale Übergabe dessen, was der Mensch bekommen und entwickelt hat, an die Menschheit ist ein unumkehrbarer Prozess und Teil des Programms. Dabei erweist sich die Gesellschaft im Endergebnis selbst als Metamensch, der immer latent in uns gelebt hat, so wie auch jedes neue Leben mitsamt dem Tod in jedem  Keim zu leben und sich zu entwickeln beginnt. Damit eine neue Qualität geboren werden kann, braucht es den Tod der vorangegangenen Quantität.[26] Wahrscheinlich ist es eben der Metamensch, den die Menschen an ihrem Fließband zusammensetzen.

Die Menschheit ist offensichtlich das, was an die Stelle des Menschen treten wird. Sie wird ihn einfach schlucken oder weniger schrecklich ausgedrückt, mit ihm verschmelzen, um dann bereits als neues souveränes Objekt zu existieren. 

Das ist keine Phantasie. Schon heute lässt sich sehen, wie das vonstatten gehen kann. Niemand wird bestreiten, dass das Leben komplizierter wird. Wer heutzutage ein High-Tech-Gerät oder z.B. ein Auto kauft, bekommt dazu einen 500 Seiten-Bestseller – die Gebrauchsanweisung. Und viele kommen nicht mehr damit zurecht. Die Zeiten, daß man sich einen Menschen oder eine Gruppe von Leuten vorstellen kann, die Technik ohne Hilfe zu steuern in der Lage ist, sind unwiederbringlich vorbei.Wir sind in eine Welt eingetreten, in der wir ohne Computer nicht effektiv funktionieren können. Ohne sie kommt es zu Stillstand und Chaos. Innerhalb von nur 50 Jahren haben Computer das Leben des Menschen vollständig verändert und ihn sich untertan gemacht. Das heißt, dass der Mensch praktisch freiwillig seine Freiheit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem Computer übergibt. Angesichts des rasenden Fortschritts der Technik und deren immer komplizierteren Handhabung wird der Mensch gezwungen sein, die Steuerung aller Prozesse (und zwar nicht nur der technischen) in die Hände von Maschinen (Computer und Roboter) zu legen. Das heißt, dass Gemeinschaft zum Zeitpunkt der Annäherung an den Punkt der Singularität[27] nicht wie früher aus Menschen und diesen unterworfenen Gesellschaften und technischen Mitteln bestehen wird, sondern aus einer Gesellschaft (dem Metamenschen) und diesem unterworfenen einzelnen Menschen, was im Ansatz bereits heute existiert. Natürlich wird der Metamensch wesentlich humaner sein als der Mensch. Denn der Mensch (Schöpfer) kann ja nicht einen künstlichen Intellekt und später einen Superintellekt schaffen, der ihm selbst feindlich ist. Er muss sich immer rückversichern. Alles wiederholt sich erneut.

Hier ist es interessant, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die zu schaffende Gesellschaft bzw. ihre Institute humaner sein werden als der Mensch selbst[28], der sich in seiner Geschichte nur wenig geändert hat. Natürlich werden die menschlichen Institutionen immer von einem Virus zerfressen, dessen Name Mensch ist, aber die biologische und soziale Evolution werden zusammen die Schaffung einer moralischen Menschheit vollenden. Die höhere Welt braucht kein schmutziges, amoralisches Bewusstsein und sie wird es durch ihre Filter nicht dorthin lassen.

Bald wird sich zeigen, dass das Leben so kompliziert ist, dass es zu gefährlich ist, die Zukunft dem Menschen anzuvertrauen, so dass dieser sanft in Rente geschickt wird. Er wird von den Geschäften entfernt sein, dabei lange leben, nichts missen, ohne Kriege und Konflikte leben und schließlich sein durch Leiden wohlverdientes Paradies bekommen. Und dann wird er langsam  degenerieren.[29] Zu  dieser Zeit – vielleicht die Zeit des entwickelten Kommunismus, werden alle in fast allem gleich sein. Die menschliche Kunst und Geschichte wird tatsächlich enden: Die Kunst deshalb, weil es sinnlos ist, absolut standardisierte Geschichten zu beschreiben, wenn alle gleich gut leben, gleich gut denken, und gleich gut aussehen. Die Geschichte wird enden, weil in der menschlichen Geschichte nichts mehr passieren wird, keine Konflikte, keine Kriege. Warum sollte es sie geben, wenn es allgemeinen Überfluss gibt und nichts geteilt werden muss oder kann. (so gesehen war Francis Fukijama mit seinen Schlussfolgerungen ein bisschen voreilig, als er die liberale Demokratie zum Gipfel der sozialen Entwicklung erklärte[30], so wie es schon vor ihm Hegel mit der preußischen Monarchie getan hatte). Wie jeder aussortierte, aber immerhin wohlhabende Pensionär wird auch der Mensch allmählich verwelken. Aber an seiner Stelle erscheint in vollem Glanz der Metamensch. Wir alle bringen, wenn wir im Metamensch sterben, diesem alles, was wir sind, was wir durch Leiden verdient und geschaffen haben. Nichts geht verloren.

Schauen wir uns andererseits die Pyramide des Lebens an. Das Fundament bilden Milliarden Bakterien, dann kommen Millionen einfache Organismen, Tausende Insekten, Hunderte Säugetiere und schließlich an der Spitze der Mensch. Nach der von Teilhard de Chardin so wunderbar beschriebenen Regel des Aufrollens der Materie kommt es zu einer Verdichtung und Komplizierung der Konstruktion bei Steigerung des Intellekts, was wahrscheinlich auch das Gesetz des gesamten Universums ist. Wir sehen, wie sich buchstäblich alles in einem Punkt an der Spitze der Pyramide zusammenzieht. Unsere gesamte Welt wurde so aufgebaut, dass man am Ende dieses Produkt erhält: den Metamenschen. Der Metamensch gehört wie alles Grenznahe gleichzeitig zu unserer Welt und gehört schon nicht mehr zu ihr. Er befindet sich im Punkt der Singularität. Deshalb lässt er sich schon nicht mehr genau denken. Vielleicht ist er eine Kombination aus Mensch und Maschine (nach dessen Ebenbild), die mit Sicherheit mit einem Superintellekt ausgestattet ist, der mit dem menschlichen nicht zu vergleichen ist.

 Alles in dieser Koordinate komprimiert sich in einem Punkt. Es gibt keine Einteilungen mehr, kein Gut und Böse, keinen Tod. Alles stürzt ein. Die Stadt stürzt ein, Häuser, Mauern, die die Menschen voneinander trennen, der auf Blut und Tränen aller Generationen errichtete Turm von Babel. Wir sehen bereits, wie er sich neigt und Risse bekommt. Die Menschheit vereint sich. Es gibt nicht mehr Männer und Frauen, Weiße und Schwarze, Kluge und Dumme, Mörder und Ermordete, Gewalttäter und Gewaltopfer, Diebe und Ausgeraubte, Lügner und Betrogene, Missetäter und deren Opfer. Alles, was die Menschen hinderte, sich zu vereinen, verschwindet, weil es der Metamensch schlicht nicht mehr braucht. Es entfällt ganz von selbst. Und sobald sich der Rauch verzieht, erblickt die Menschheit die Neue Stadt. Alles wird wie in Hollywood sein.

Aber an dieser Stelle muss einem klar sein, dass die sich zerstörende Stadt (Apokalypsis)[31] sich diesseits des Punkts der Singularität befindet, aber die neue Stadt (Apokatastasis) bereits jenseits. Und was dort, im neuen Leben sein wird, wissen wir nicht, da der Metamensch mit einem gänzlich anderen Denken, einer gänzlich anderen Vernunft ausgestattet sein wird, die mit absoluter Sicherheit nicht westlich sein wird.

In diesem Punkt werden sich viele Ideen realisieren, die sich der Mensch durch Leiden verdient hat: Der Mensch wird – durch die Menschheit – zum Metamenschen. Er wird wieder Adam. Alle Menschen verschmelzen und erschaffen Adam neu, der einst der höheren Welt angehörte.

Über uns steht eine Vernunft, die wir selbst schaffen – die Menschheit. Auf diesen schockierenden Gedanken kommen [32]die Leute auf unterschiedlichen Wegen. Nur setzen sie immer einen Menschen über uns, was nicht sein kann, da der Mensch nicht in der höheren Welt existieren kann.

Viele fürchten, dass es zu einer Katastrophe kommt: Die Menschheit wird sich selbst auslöschen oder es kommt eine neue Sintflut, oder eine Kollision mit einem Meteoriten oder noch etwas anderes. Aber wenn über uns eine humane Vernunft steht, die Menschheit selbst, die diesen Weg bereits durchlaufen hat, wie kann sie dann den Untergang ihresgleichen zulassen. Das lässt sich nicht glauben. Die Menschheit muss ihren Weg bis zu Ende gehen.

Ins Gedächtnis kommt eines der letzten Bilder Rembrandts: „Die Rückkehr des Verlorenen Sohns“. Natürlich sehen wir alles anthropomorph: Der Sohn in Lumpen und der fast erblindete Vater, der seinem Sohn die Hand auf die Schulter legt und verzeiht. Aber es kann durchaus sein, dass alles ganz anders aussehen wird, dass nämlich ein alter Mann in ausgetretenen Schuhen seinen jungen und ewig lebendigen strahlenden Sohn-Vater um Vergebung bitten wird.[33]

11. Das Ziel des Menschen

Tatsächlich lässt sich das Ziel des Menschen folgendermaßen formulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, den Menschen zu töten. Dieses globale Ziel ist hier in der schockierendsten Form ausgedrückt, lässt sich aber auch in anderer Form umformulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, sich in den Metamenschen zu verwandeln. Ausgehend von dem Obengesagten bedeuten diese beiden Formulieren absolut das Gleiche. Weil der Mensch nur dann, wenn er den Mensch in sich tötet, und nicht früher, im Metamenschen verschmelzen kann, d.h. dieser werden kann. Deshalb ist es wahrscheinlich am besten zu formulieren: Das Ziel des Menschen besteht darin, den Menschen in sich zu töten und zum Metamenschen zu werden.

Und warum soll eigentlich die erste These den Menschen schockieren. Schließlich ist er von Generation zu Generation täglich damit beschäftigt, sich selbst zu töten. Und dabei spreche ich gar nicht von Kriegen und direkten Morden. Schließlich kann man sagen, dass alltäglicher Streit, Konflikte und Zusammenstöße auch nichts anderes sind als das Bestreben, den anderen mental auszulöschen.

12. Die Blüte Europas

Anfang des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte Oswald Spengler sein berühmtes Buch „Der Untergang des Abendlands“, in dem er im wesentlichen die menschliche Kultur und die über Jahrhunderte angehäuften Werte beweinte. Seines Erachtens degeneriert die organische Kultur sterbend zu ihrem Gegenteil – der Zivilisation, in der nackter Technizismus herrscht und Kreativität und Entwicklung durch Fruchtlosigkeit und Verknöcherung verdrängt werden. Schon vor Spengler hatten russische Schriftsteller und Philosophen des 19. Jahrhunderts ihre Ablehnung der neuen Welt zum Ausdruck gebracht.[34] Von Ivan Kirejewskij und Wladimir Solowjew bis Lew Tolstoj und Fjodor Dostojewskij widmeten sie sich der Frage der Gottlosigkeit der europäischen Kultur, d.h. der Frage der europäischen Zivilisation. Die Verkümmerung des religiösen Gefühls, der Verfall monumentaler Kunstformen, der Verlust eines organischen Lebensgefühls, die endlose Problematik des Lebens, dem eine Ansammlung lebloser Emotionen untergeschoben wird, die Entpersönlichung des Menschen durch den Mechanismus, die Verwandlung seiner Seele in den Bodensatz seines Berufs, der Tod der Nation im Kosmopolitismus – das waren die Themen der russischen Slawophilen.

Aber der Skeptiker Spengler hat sich zugleich als guter Prophet erwiesen. „Es vergehen einige Jahrhunderte und auf dem Erdball wird es keinen Deutschen, Engländer oder Franzosen mehr geben, wie es zu Zeiten Justinians keinen einzigen Römer mehr gab.“ (Den endgültigen Tod der „Faustischen Kultur“ sagt Spengler für das Jahr 2000 voraus, wie immer ein bisschen übereilt, da immer noch ein paar Inseln dieser Kultur existieren, aber im großen und ganzen recht genau.)

Der Inhalt seiner Prophezeiung – der Tod der europäischen Kultur – setzt sich vor unseren Augen fort. Jetzt allerdings ist schon die Rede vom Tod des Menschen an sich, aber das konnte Spengler vor 100 Jahren ebenso wenig sehen, wie wir heute sagen können, welche Perspektiven sich in 100 Jahren eröffnen werden.

Zugleich zwingt Spengler sich zu glauben, dass in jeder Aktionärsversammlung eines großen Unternehmens unvergleichlich mehr Verstand und Talent versammelt seien als bei allen zeitgenössischen Künstlern zusammen. Spengler träumt davon, durch sein Buch möglichst viele junge Menschen vom Weg des sinnlosen und in seiner Zeit unmöglichen Musendienstes abzubringen, um sie zu Ingenieuren oder Chemikern zu machen.

Und auch hier sollte er Recht behalten. Schauen wir doch, was vor unseren Augen in der Kultur passiert, die immer eine konzentrierte Spiegelung des Zustands einer Gesellschaft war.

Wahrscheinlich kommt man nicht umhin, Marcel Duchamps (und nicht etwa Kasimir Malewitsch) mit seinem als Kunstobjekt ausgestellten Pissoir als wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts anzusehen.

Im Lichte der hier betrachteten Ideen war just dieses Pissoir das erste auf einer Ausstellung gezeigte Objekt der modernen Geschichte, das nicht vom Menschen (und nicht einmal von einer Gruppe Menschen), sondern von der Menschheit geschaffen wurde.

Bei dieser künstlerischen Geste ist erstmals das Individuelle abhanden gekommen. Dem Mensch wurde angeboten, sich am Öffentlich-Kollektiven zu begeistern. Und was nicht alles im Gefolge Duchamps in die Museen gekarrt wurde und immer noch wird: Maschinen, Eisen- und Holzteile, Schotterhaufen, Räder, Nichts, Schrauben, Stiefel, allerlei Plunder...Dabei wird all dies in gewisser Weise in den Tempeln der Kunst sakralisiert. Gleichzeitig aber werden die Museen selbst entsakralisiert, indem man sie zu Speicherhallen für Schrott jeglicher Art macht, zu Pfandhäusern, aus denen nie irgendjemand irgendetwas wieder auslösen wird.[35] Grundsätzlich besteht das Problem der aktuellen Etappe des Verfalls bzw. der Entwicklung der Kunst darin, dass sie nicht sterben will und sich deshalb an das neue klammert, ohne freilich das alte loszulassen (zugegebenermaßen war dies immer so). Wenn man sich die großen Schauen zeitgenössischer Kunst anschaut, die Biennalen und Documentas, dann haben sich diese in Vergnügungsparks verwandelt, bei denen das Publikum vorbeischaut, um sich zu erholen oder zu lachen, so wie in Spiegelkabinetten mit amüsanten Zerrspiegeln[36]. Die Museen sind leer. Alle sind auf den Autosalons in Detroit oder verfolgen mit zurückgeworfenen Köpfen die Flugschau in Le Bourget oder begeistern sich für die neueste Technik auf der Cebit in Hannover. Die Kunst einzelner Kunsthandwerker ist für die Leute schon nicht mehr interessant. Sie begeistern sich für die Kunst der Menschheit.

 Die Menschheit möchte sich an der Kunst der Menschheit begeistern, an ihrer eigenen Kunst. Und man muss sagen, dass es tatsächlich viel gibt, was einen in Begeisterung versetzen kann. Das wunderschöne Concorde-Flugzeug, das neueste Modell von Toyota – das ist tatsächlich zeitgenössische Kunst. Das Design siegt. Diese Kunst kann schon nicht mehr von einem einzelnen Menschen geschaffen werden. Das ist die Kunst von Tausenden und Millionen. Diese Kunst ist schon auf dem Weg zur Kunst des Metamenschen.[37] Wozu brauchen wir heute Performances in Museen und Kunstgalerien, wenn die Straße schon längst alles übernommen hat. Die Aktionen von Greenpeace oder Tausender streikender Arbeiter haben hinsichtlich ihres künstlerischen Niveaus und ihrer Aktualität schon längst alle Verrenkungen und Grimassenschneidereien in den Museen in den Schatten gestellt. Die Dichtkunst ist schon fast verschwunden und wird durch Reklameslogans ersetzt. Die Opern Bergs oder Schönbergs werden von niemandem besucht. Gepriesene Opernregisseure verkleiden Aida, Nadir oder Parzival ständig in Jeans. Und sie können sich nichts besseres ausdenken. Hauptsache das Publikum wird gehalten, um nicht ohne Arbeit zu bleiben. Das echte Theater hat sich schon längst in die Politik verzogen. Präsidenten und Premiers sind die richtigen Show-Männer.

Die Entstehung des Konzeptualismus als Kunstrichtung zeugt davon, dass man sich an Gedanken genauso ergötzen kann wie an Gefühlen. Die künstlerische Form befreit sich allmählich von ihrem sinnlichen Inhalt. Der Nullpunkt des Anthropomorphismus schließt das Vorhandensein von Gefühlen aus.

 Das Gefühl gehört der Kunst des Menschen, der Gedanke der Kunst des Metamenschen.[38] 

Oswald Spengler hat nirgendwohin gerufen. Er ist an einer Weggabelung stehen geblieben. Er schaut zurück auf die durchlaufene Kultur, die ihm unendlich teuer ist wie uns allen, die in ihr großgeworden sind und leben. Und ihn fesselt der Gedanke, dass all dies die letzte Erleichterung und Tröstung des Todes ist. Aber es gibt keinen Tod. Er fürchtet den Blick nach vorn. Und das Schicksal geht auch jenseits dessen weiter, was die Faustische Seele als einziges Leben ansah. Für unsere Generation ist es schwierig, dies zu akzeptieren. Aber es werden andere kommen, und nach ihnen wieder andere, und alles, was uns schockiert, wird völlig normal sein. Hollywood arbeitet mit Volldampf daran, indem es uns Schritt für Schritt an die unabwendbare Realität heranführt.

13. Alles ist vorherbestimmt, aber es gibt Freiheit[39]...

Was sind das für Kategorien: Gewissen, Seele, Vernunft? Nur wenn sie dies versteht, wird die Menschheit alles bekommen und kann sich in den Metamenschen verwandeln. Bereits heute sind Programmierer gezwungen, wenn sie Leben modellieren, diesen sakralen Begriffen höchst prosaische mathematische Charakteristika zu geben.[40]

Alles in unserem Leben hat seine Programme. Wenn wir in einen geeigneten Boden ein Senfkorn pflanzen, dann können wir sicher sein, dass daraus ein Senfstrauch wachsen wird. Er kann vom Wind geschüttelt werden, sich zur einen oder anderen Seite neigen, aber es wird ein Senfstrauch sein und keine Eiche. Das heißt, dass in dem kleinen Senfkorn bereits als Projekt der Strauch enthalten ist. Und so ist es mit allem in unserer Welt. Alles hat seine eigenen Programme – der Mensch, ein Geschlecht, eine Nation. Später werden sich alle einzelnen Programme zu einem einzigen großen Projekt vereinen. Und das ist dann auch das Programm unserer Welt.

Der Mensch wurde gepflanzt und die Menschheit keimt auf. 

Just die Programme sind dafür verantwortlich, dass alles in der Welt zu seiner Zeit geschieht[41] und einem großen Plan unterworfen ist. Man kann sich schlecht etwas anderes vorstellen. Der Computer beginnt erst dann zu funktionieren, wenn der Programmierer ihn mit den entsprechenden Anweisungen füttert.

Wahrscheinlich gibt so etwas wie ein Gedankenfeld – ähnlich einem Elektro- oder Magnetfeld – das zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch nicht ausreichend erforscht ist, sich aber durchaus zeigt. Etwa das Leuchten von Lebendem in einem elektromagnetischen Feld, den Kirlianeffekt, der beweist, dass alles Lebende eine Aura hat- Und was ist Suggestion bzw. Hypnose anderes als die Übermittlung von Gedanken an andere. Es gibt Leute, die über die Fähigkeit verfügen, nicht nur auf einzelne Personen sondern auch auf Massen einwirken können. Tausende Leute, die hysterisch ihre Arme Diktatoren entgegenstrecken, Tausende, die in Trance fallen, wenn sie Musikern oder Politikern zuhören. All diese Leute befinden sich offensichtlich in einem veränderten Bewusstseinszustand. Ein anderes bekanntes Phänomen sind die écriture automatique und andere Formen der Schreibtätigkeit durch Suggestion oder Hypnose,  wenn ein Mensch, ohne sich dessen bewusst zu sein, ganze, von einem Unbekannten diktierte Bücher schreiben kann, zuweilen sogar in Sprachen, die er gar nicht kennt. Ich denke, dass alle wichtigen Bücher der Menschheit so geschrieben wurden. Tatsächlich weiß dies jeder Mensch, und vor allem wissen dies kreativ tätige Leute, egal, ob in der Wissenschaft oder Kunst. Die besten Ideen kommen, wenn sich der Mensch in einer Art Trance befindet. In diesem Moment verfliegt das Gefühl von Zeit und Sinnen, der Mensch schaltet sich von dieser Welt ab, schließt sich an eine andere Welt an und beginnt, die zu diesem Zeitpunkt schon fertige Information „herunterzuladen“. Alle spirituellen Praktiken basieren auf einem Trance-Zustand: ein tiefes Gebet (nicht etwa ein mechanisches Murmeln), rituelle Tänze, fernöstliche Praktiken, Psychoanalyse, neuro-linguistische Programmierung, Autotrainings, die immer Entspannung, faktisches Ausschalten der Sinne und Konzentration auf einen Informations- bzw. Gedankenkanal erfordern. D.h., dass sich der Mensch entweder selbst wie ein Objekt auf den Empfang einstellt oder eingestellt wird, indem ein Gedankenfeld genutzt wird. Das Gedanken- bzw. Informationsfeld durchdringt und verbindet das gesamte Universum, und sein Empfänger befindet sich in uns.

Man kann ergänzen, dass der Mensch, sobald bekannt sein wird, wie das Gedankenfeld funktioniert, ausgedient haben wird, da die Fähigkeit, Informationen von außen zu empfangen, das ist, was den Menschen von der Maschine unterscheidet.[42]

14. Die Göttliche Komödie

Gibt es Hölle, Fegefeuer und Paradies, also die Räume, deren Topographie Dante mental erforscht hat, tatsächlich? Existieren sie außerhalb unser oder in uns? Vielleicht sind die von Dante beschriebenen Flugbahnen und Geschichten eine Erzählung über die menschliche Seele, in der all dies potentiell existiert. Oder vielleicht sind das alles Verirrungen unseres geteilten Verstands? Muss wirklich ein Teil der Menschheit in einer speziellen Küche gebraten werden? Es ergibt sich der Eindruck, dass die menschliche Phantasie immer mit der Wirklichkeit konkurriert. Und es ist völlig unmöglich zu sagen, wer gewinnt. Tatsächlich sind unsere Phantasien natürlich nur Projektionen der Wirklichkeit und allein deswegen schon vollkommen phantastisch.

In jedem Fall kann man sich vorstellen, dass das Paradies bei der Annäherung an den Punkt der Singularität als eine Prämie für die Menschheit möglich ist. Und Fegefeuer und Hölle haben wir immer zu allen Zeiten. Vielleicht rahmen Hölle und Paradies unser Leben ein, indem sie in ihm enthalten sind. Und wir bewegen uns in der Welt der Divergenzen von einem Pol zum anderen – von den Unterschieden zur Einheit.

15. Wendepunkt. Collapse Art.

Alle Zeiten sind wichtig, aber besondere Verantwortung wird in Zeiten des Umbruchs benötigt. Allem Anschein nach durchleben wir gerade eine dieser Zeiten. Der Mensch ist an einem Punkt angelangt, wo er sich selbst verändern kann, seine Natur deformieren kann. Wir befinden uns wahrscheinlich in einer Phase irgendwo am Grund der Hölle. Denn eine Welt ohne Einteilungen ist das Paradies. Und eine Welt mit maximalen Einteilungen ist die Hölle. Die Hölle, weil diese Unterschiede auch Verführungen hervorbringen. Das heißt, dass wir (in den entwickelten Ländern) in einer Welt maximaler Verführungen leben und nicht lange in diesem Zustand verharren können, da in der Welt der Divergenzen ein unverhältnismäßiges Anwachsen der einen Eigenschaften zu einer größeren Rolle des Gegenteiligen führt. Ebendies ist der Wendepunkt. Es scheint, dass gerade jetzt die von Gesellschaft und Maschinen gewährleisteten Faktoren der Vereinigung volle Kraft in Gang gesetzt werden sollten. Der Mensch selbst ist schon nicht mehr in der Lage, allein mit der ihm auferlegten Mission fertig zu werden. Er kann nur immer tiefer fallen.

Grundsätzlich ist das Szenario des Abstiegs in die Hölle nicht neu. Herakles, der aus dem Erdenzelt wegging und das untere Haus Pluto überließ, Orpheus, der in ebenjenem Reich Euridike suchte, Krischna, der in den Hölle hinabsteigt und sechs seiner Brüder befreit, Jesus... Offenbar muss man vor dem Aufstieg den Boden berühren, den ganzen Kreisweg durchlaufen.

Die heutige Zeit ist überaus wichtig. Der Mensch hat sein ganzes Leben gelebt, um die Unterschiede zu vergrößern, seine Individualität und seinen Egoismus zu verteidigen. Aber mit Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt sich das Bild in sein Gegenteil zu kehren. Die Russische Revolution, die weltumspannende Internationale, neue soziale Ideen. Natürlich war dies alles vor seiner Zeit, aber es war ein Anfang. Damals siegte das Menschliche, weswegen alles schiefgelaufen ist. Aber jetzt, hundert Jahre später, ergeben sich ganz andere Perspektiven. Natürlich wird sich der Mensch nicht einfach ergeben und ein Hindernis nach dem anderen errichten, aber die Wurzeln dieses Widerstands sind schon untergraben. Und eine Alternative zum Weg zur allgemeinen Vereinigung hat der Mensch nicht.

Deshalb müssen wir Schritt für Schritt unser Denken verändern. Und das ist schwieriger als alles andere. Alle sprechen von einem neuen Denken, aber niemand gibt sich Rechenschaft darüber, dass sich dies durch Reden allein noch nicht formulieren lässt. Und dieses neue, eigentlich sehr alte Denken, das Streben nach Vereinigung in Verbindung mit der „Demut gegenüber dem Leben“, ist  just das, was der Mensch abgelegt hat, nicht ernst genommen hat, nach seinem eigenen Gutdünken umgemodelt hat. Es zeigt sich, dass wir so oder so, auch wenn wir uns dem Punkt der Singularität von der anderen Seite aus nähern, trotzdem verpflichtet sind, unser Bewusstsein vom Schmutz zu reinigen, der von uns über Jahrhunderte angehäuft wurde. Heute steht die Menschheit kurz vor dem Kollaps. Und wie auch für einen einzelnen Menschen ist dies ein sehr kritischer Zustand.

Es kollabiert auch die menschliche Kunst. Sie schickt uns ein SOS nach dem anderen, aber wir hören nichts oder wollen nicht hören. Die Kunst hat sich in etwas flackerndes, funkelndes Clipartiges verwandelt, das ständig in Bewegung ist. Sie wurde schließlich schon vor langem zum wichtigsten Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Aber die Kunst ist in dieser Übergangszeit von herausragender Wichtigkeit. Und ich stelle mir vor, dass auf dem Weg zur Verschmelzung mit Design und Wissenschaft doch noch eine Periode der Ruhe und Kontemplation sein wird.

16. Wo bist du?

Natürlich kann man sagen, dass die Perspektive, in den Metamenschen überzugehen, nicht allen Menschen gefällt. Dies betrifft vor allem Anhänger der westlichen Denkweise. Viele assoziieren bis in die heutige Zeit materiellen Fortschritt mit dem Teufel. Man könnte glauben, dass ihnen ein anderer Weg bekannt ist. Aber in der Welt der Divergenzen gibt es einen solchen Weg nicht.

Wir können uns an die Zeit vor etwa hundert Jahren erinnern, als die ersten Maschinen auftauchten, wir können uns an die wütenden Worte Lew Tolstojs erinnern und den Schrecken Dostojewskijs vor der heraufziehenden neuen Welt, dem menschlichen Ameisenhaufen... Und auf der anderen Seite an die Begeisterung der Futuristen und Avantgardisten und an ihre Hoffnungen, wie heute Utopien genannt werden, auf die Hilfe der Maschinen...

So werden sich wahrscheinlich Leute finden, die der totalen Gleichmachung zu entfliehen bestrebt sind. Und wenn dieses Szenario besonders bedrohlich werden wird, werden sie sich in Wäldern (wenn es diese noch geben wird) oder Kluften verstecken oder zu anderen Planeten fliegen. Viele von ihnen werden umkommen, viele werden sich in Tiere verwandeln, aber jene, die überleben, können theoretisch ein neues Leben anfangen. Und das werden erneut Menschen (adams) sein, die nicht hören wollten und Äpfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gewählt haben. Und alles wird noch einmal von vorne beginnen. Anders kann es nicht sein. Blut, Mord, Verrat, Konzentrationslager, aber auch Bach und Rembrandt... Und wieder werden die Leute auf ihren Buckeln ihre ein klein bisschen veränderten Geschichten zum neuen Metamenschen tragen. Und erneut werden sie sich an eine Goldene Vergangenheit erinnern, an Lemuria und Atlantis.

Nachwort:

Der Autor vertritt die Auffassung, dass es keine prinzipiell neuen Ideen gibt und lediglich die Zeit einige von ihnen aktualisiert und präzisiert, indem sie andere zwischenzeitlich beiseite schiebt.

1.     Im Unterschied zu Alvin Tofflers Buch „Die dritte Welle“, das auf 500 Seiten Tausende Kriterien erfasst, werden an dieser Stelle die gleichen Probleme auf 20 Seiten anhand eines einziges Parameters (Einheit-Unterschiede) untersucht. Es zeigt sich, dass gerade das Kriterium des Unterschieds der gesamten komplizierten Struktur zugrundeliegt.

2.     Es wird belegt, dass ein Sieg des Menschen über Leiden und Tod ohne globale Einheit nicht möglich ist. Dies ist der einzige Weg, einen anderen gibt es nicht.

3.     Gerade die Menschheit kann sich als jener Übermensch (Metamensch) erweisen, der den Menschen beerbt. Gerade die Menschheit schafft um sich einen künstlichen moralischen Raum.

4.     Es konkretisiert sich der Begriff des „neuen Denkens“, der mit der heutigen Zeit korrespondiert, einer Zeit des Umbruchs, in der es auch zu einer Änderung des Denkens kommt.

Igor Ganikowkskij. Odenthal. 2006-07.

Übersetzung aus dem Russischen: Lars Nehrhoff.


[1] Der russische Kosmist Nikolaj Fjodorow hat Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben: „In der heutigen Zeit läuft alles darauf hinaus, dass man schließlich den verlorenen Sinn des Lebens finden muss, das Ziel verstehen muss, dessentwillen der Mensch existiert, und das Leben diesem entsprechend einrichten muss. Und dann zerstört sich die ganze Verwirrung, die ganze Unsinnigkeit des modernen Lebens von selbst. N. Fjodorow: „Filosofija obschego dela“, Bd. 1.


[2] Sich ein vierdimensionales Objekt vorzustellen erlaubt weder unser äußeres noch unser inneres Sehvermögen.


[3] Deshalb kehrt womöglich niemand nach dem Tod zurück. Einmal geschaffen hat die Welt immer einen Anfang und ein Ende, wie alles künstliche. In unserer Welt gibt es kein perpetuum mobile. Ein solches perpetuum mobile für unsere Welt kann nur außerhalb dieser existieren.


[4] Siehe z.B.: Stephen Hawking: „Kurze Geschichte der Zeit“.


[5] Natürlich lassen sich hierzu auch andere Religionen wie z.B. der Taoismus zählen. Aber sie sind ohnehin alle zwischen dem Buddhismus und dem Judentum als besonders extreme und radikale Projekte anzusiedeln.


[6] Der Judaismus verbietet dem Menschen, sich von der niederen Welt loszulösen. Er fordert, nicht nur selbst Heiligkeit zu erlangen, sondern auch die gesamte niedere Welt zusammen mit sich zu den Himmeln zu erheben. Heiligkeit soll nicht dem Leben entgegengesetzt sein, sondern soll sich in ihrer ganzen Fülle realisieren, in den materiellen Objekten nicht weniger als in den geistigen.


[7] Der Zustand des Nirwana


[8] In der tibetischen Tradition wird zwischen zwei Arten des Unwissens (Marigpa) unterschieden: angeborenem und kulturbedingtem. Ersteres ist die Unkenntnis der wahren Natur der Welt, infolge derer wir in Verirrungen unseres Verstands gefangen sind, der die Einheit in Gegensätze teilt. Auf Grundlage einer solchen abstrakten Einteilung entstehen bei uns Präferenzen, die sich als Neigung und Ablehnung, Gut und Böse zeigen. Die zweite Art des Unwissens ist kulturbedingt. Es drückt sich in Geboten und Verboten aus, die sich in einer Gesellschaft gebildet haben und in ein Wertsystem gegossen sind. Verschiedene Überzeugungen gehen von Vorurteilen und Aberglauben aus, die Teil der Kultur sind, und nicht von ureigenem Wissen.


[9] Im weiteren soll nur das westliche Modell betrachtet werden.


[10] Zur heutigen Entfremdung der Menschen siehe auch: Alvin Toffler: „Die dritte Welle“


[11] Vor 150 Jahren hätte das Auftauchen moderner Autos auf den Straßen der Städte eine eindeutige Reaktion hervorgerufen: Außerirdische sind gelandet. Wenn wir heute den Kopf heben und plötzlich fliegende Untertassen über unseren Köpfen sehen, würden wir das gleiche denken, obwohl es durchaus möglich ist, dass solche Untertassen in 70 Jahren eine völlig normale Sache sein werden.


[12] Gleiches vollzieht sich auch bei einem Puzzle-Spiel, bei dem die größte und zeitraubendste Schwierigkeit darin besteht, die ersten Puzzleteile zu finden und richtig zu legen (zumal der Mensch im Unterschied zu Gott nicht das ganze Bild vor sich sieht), während es im weiteren Verlauf immer einfacher wird und das letzte Puzzleteil automatisch gelegt werden kann, weil es keinen anderen Platz für es gibt und das allgemeine Bild bereits fertig ist. Wichtig ist hierbei, dass sich die Welt stufenförmig auftut, indem sie ihr Schema Schritt für Schritt offen legt und die Geschwindigkeit des Aufdeckens dabei zunimmt. Igor Ganikowskij: „Der Mensch als Antivirenprogramm“.


[13] In Amerika gibt es bereits die industrielle Produktion geklonter Tiere (Katzen, Hunde, Pferde, Stiere...). Das Anliegen einiger Regierungen, das Klonen von Menschen oder Manipulationen menschlicher Zellen zu verbieten, hat keinerlei Perspektive, da es noch nie und nirgendwo auf der Welt gelungen ist, das menschliche Denken aufzuhalten. Alle diese Versuche erinnern an das Experiment des Aufbaus des Sozialismus in einem einzigen Land und führen nur zu intellektueller Rückständigkeit. Sie zeugen von einem gefährlichen, völligen Unverständnis dieser Regierungen für die Ziele der Menschheit und ihrem Wunsch, die Menschheit in einer Welt der Konzentrationslager, der Leiden und des Todes zu halten. Was könnte die Menschen gleicher machen als das Klonen?


[14] Singularität - Explosion in der Nano-, Bio- und Computertechnologie.

Molekulare Nanotechnologie - vollständige Kontrolle über die Struktur der Materie auf der Ebene des Atoms.

Molekulare Biotechnologie - funktionale Genetik, Mikrobiologie, Zytologie.

AI: Künstliche Computerintelligenz mit Vernunft und kognitiven Fähigkeiten auf menschlichem Niveau.

SAI – Künstlicher Computerintelligenz übermenschlichen Niveaus.

Die Evolution von Robotern wird etwa um das Jahr 2040 menschliches Niveau erreichen. Die sich exponentiell entwickelnden Technologien werden unser gesamtes Leben in unerdenklich kurzer Zeit verändern Die Singularität wird zu fast grenzenlosen technischen Möglichkeiten führen. Die Menschen, die in heutiger Zeit um knappe Ressourcen kämpfen, werden einen unerdenklichen Wohlstand und Freiheit erlangen.

Michael Deering: „Dawn of Singularity“

Es ist symptomatisch, dass Deering ebenfalls das Wort "Singularität" benutzt, allerdings als Synonym für Miniaturisierung

Die Berechungen basieren im wesentlichen auf dem sogenannten Mooreschen Gesetz, das nach Gordon Moore benannt ist, einem der Mitbegründer von Intel, der 1965 bemerkte, dass sich die die Komplexität integrierter Schaltkreise mit jedem Jahr verdoppele.


[15] Natürlich gab es immer wieder auch Perioden einer Ausweitung der Einheit. Wie immer in der Welt der Gegensätze beobachten wir einen Kampf unterschiedlicher Tendenzen.


[16] Siehe ausführlicher: László, Ervin: „The Age of Bifurcation. Understanding the Changing World”


[17] Einer Verschmelzung der Kirchen stehen eher menschliche als göttliche Faktoren im Weg. Das Grundprinzip aller Kirchen ist ein und das gleiche: „Füge keinem anderen zu, was du nicht für dich selbst willst.“ Das gleiche Prinzip der Einheit wurde in noch ausgeprägterer Form von Albert Schweitzer als Ehrfurcht vor dem Leben ausgedrückt (vor jeglichem Leben, nicht nur dem menschlichen). Albert Schweitzer: „Kultur und Ethik“.


[18] Die Errungenschaft der modernen Wissenschaft zeigt, dass Einheit der Materie zugrunde liegt oder die gesamte Informatik auf Nullen und Einsen aufbaut.


[19] Allerdings wird der Mann für den Aufbau von Samenbanken einstweilen noch gebraucht.


[20] Der „Neue Mensch“ ist als Begriff durch den historischen Gebrauch kompromittiert. Allgemein haben Begriffe wie „der Neue Mensch“, „Übermensch“,“Nano Sapiens“... eine lange Geschichte in der philosophischen Diskussion etwa bei Feodor Dostojewskij, Fridrich Nietzsche, Teilhard de Chardin, Lev Trotzkij, Hermann Rauschning,  Frans Fanon Hans Moravetz und anderen... Bei ihnen allen hat sein Bild unterschiedliche, höchst verschwommene Züge.


[21] Es ist tatsächlich eines der größten Unglücke des Menschen, dass er nicht warten will. Wir versuchen oft, etwas mit Gewalt loszuwerden, statt zu warten, bis es von selbst verschwindet. Oder wir wollen etwas haben, was noch nicht reif ist.  


[22] Durch die Nutzung von Videokameras, Mikrophonen und Bewegungsmeldern lässt sich ein ununterbrochener Informationsfluss aus der realen Welt in ein künstliches Neuronennetz gewährleisten. Interaktivität lässt sich durch die Hinzuziehung von Manipulatoren erzielen.


[23] Tore sind eines der wichtigsten Elemente der moralischen Räume. Verletzt der Mensch die Gesetze der moralischen Räume, schafft er dadurch einen neuen (negativen) Subraum, verändert den alten Raum und betritt durch ein Tor diesen neuen. Dieser Raum wiederum weist bereits veränderte Eigenschaften auf und gleicht in der Regel einem Labyrinth, in dem der Mensch lange umherirren kann – manchmal sein ganzes Leben lang – bis er erkennt, was er falsch gemacht hat, an welchen Punkten dies geschehen ist. Dann kann er diesen Raum wieder verlassen, und der von ihm geschaffene Subraum wird annulliert. Die Eigenschaften des früheren Raums werden wiederhergestellt. Igor Ganikowskij. „Moralische Räume“.


[24] Russland z.B. hat für Millionen Gequälte nie Sühne geleistet oder sich auch nur entschuldigt. Deshalb wird es offenbar ewig von einem Labyrinth ins andere gehen bzw. ewig durch ein Labyrinth irren.


[25] Bardo (Tibetisch; Sanskrit: Übergangszustands): Gewöhnlich versteht man unter diesem Begriff den Übergangszustand zwischen Tod und anschließender Wiedergeburt.


[26] [26] In Hegels „Wissenschaft der Logik“ erhebt sich die Absolute Idee ausgehend vom absoluten Nichts konsequent zu sich selbst, aus sich selbst wie aus einem Saatkorn, und entfaltet alle ihre Bestimmungen, bis sie schließlich alle Ausrichtungen des Geistes in sich einschließt. Aber gerade dieser Endpunkt wird zum wahren Anfang des Weges.

„Die harmonisierte Gesamtheit der Bewusstseine ist einer Art Überbewusstsein äquivalent. Die Erde ist nicht nur von Myriaden von Gedankenkörnchen übersät, sondern auch von einer einheitlichen Denkhülle umgeben, die funktional ein umfassendes Gedankenkorn im kosmischen Maßstab bildet. Die Vielzahl individueller Gedanken gruppiert und verstärkt sich im Akt eines einmütigen Denkens.

Es steht außer Zweifel, dass die große Maschine der Menschheit geschaffen wurde, um zu handeln. Und sie muss handeln, indem sie eine Überfülle an Geist produziert. Wenn sie nicht funktioniert oder genauer gesagt lediglich Materie hervorbringt, hießt das, dass sie im Rückwärtsgang arbeitet.“ Pierre Teilhard de Chardin: „Le Phénomène Humain“ ("Der Mensch im Kosmos").


[27] Man denke an die Ankunft des Maschiach bei den Juden, des Messias bei den Christen, des Verborgenen Imams bei den Schiiten, den Punkt Omega bei T. De Chardin, die Auferstehung Nikolaj Fjodorows, die Allwelt Suchowo-Kobylins, die Universalmenschheit Dostojewskijs.


[28] Aus diesem Grund sind alle Projekte in der Art des Stalinismus oder Hitlerismus nicht lebensfähig und werden zurückgestoßen. Für die soziale Evolution sind sie allesamt Sackgassen.


[29] „Jeder, der von Kummer erlöst ist, stirbt früher, als der Tod eintritt.“ Koran.


[30] Das, dessen Zeugen wir sind, ist nicht einfach das Ende des Kalten Krieges oder einer weiteren Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher, die Vollendung der ideologischen Evolution der Menschheit und der Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Regierungsform. Francis Fukijama: „Das Ende der Geschichte?“.


[31] Apokalypsis, bei diesem Gericht wird der Mensch gerichtet, nicht aber die an seine Stelle tretende Menschheit.


[32] Siehe z.B.: Jelisarow, Jewgenij: „Mirowoj Rasum“.


[33] Tatsächlich fallen Vater und Sohn in einem Punkt zusammen. Es ist erstaunlich, wie alle Religionen recht behalten, indem jede etwas eigenes entdeckt.


[34] Als Agrarland erlebte Russland den drohenden Umbruch der gesamten Lebensweise besonders intensiv und träumte utopisch davon, dieses Stadium der Menschheitsgeschichte (den westlichen Weg) umgehen zu können. Hier hat die ewige Suche nach der „russischen Idee“, dem russischen Weg  ihren Ursprung, die bis zum heutigen Tag anhält, auch wenn wir gesehen haben, dass es diesen Weg nicht gibt.


[35] Tatsächlich haben die Museen heute große Probleme mit der modernen Kunst, die vor den Augen zerfällt und deren Restaurierung häufig teurer ist als die Werke selbst.


[36] „Warum den Spiegel schimpfen, wenn das Maul schief ist.“ Nikolaj Gogol.


[37] Hier ist ein Vergleich von Kunst und Wissenschaft interessant. Eine Bestätigung des Gedankens, dass sich Kunst und Wissenschaft immer parallel bewegt haben. Für den Menschen, der sich mit 30 Stundenkilometern bewegt hat, gab es Newtonsche Wissenschaft und Kunst, für den Menschen, der mehrere Tausend Stundenkilometer erreicht, Einsteinsche, und für den über vielfache Lichtgeschwindigkeit verfügenden Metamenschen wird es auch eine eigene Wissenschaft und „Kunst“ geben.


[38] Auch wenn natürlich guter menschlicher Kunst immer sowohl Gefühle und Gedanken eigen sind.


[39] Talmud, Traktat Avod.


[40] Nehmen wir das Gewissen. Dieses Programm im Gedankenfeld kann man sich als Vergleich der Gedanken eines einzelnen Menschen mit einem Eichmaß von Gedanken vorstellen. Wenn die Abweichungen eine bestimmte Größe erreichen, bekommt der Mensch eine Strafe in Form von Leiden. Die Gnade Gottes besteht darin, dass er selten sofort reagiert und dem Menschen Zeit zur Besserung gibt. Aufgeschobene Strafen sind eine der Stufen der Freiheit in unserer Welt.


[41] Die berühmten Worte aus dem Buch Ekklesiastikus: Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit,. und Sterben hat seine Zeit; ..


[42] Siehe ausführlich: Igor Ganikowskij: „Der Mensch als Antivirenprogramm“. 

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